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Der Maskenball am „Visiophon“

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Symposium an der Cöte d'Azur: Experten stellen Frankreichs erfolgreiche Spitzentechnologien vor. Besonders eindrucksvoll ist das, was sich im Bereich von Mikroelektronik und Medien tut.

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Symposium an der Cöte d'Azur: Experten stellen Frankreichs erfolgreiche Spitzentechnologien vor. Besonders eindrucksvoll ist das, was sich im Bereich von Mikroelektronik und Medien tut.

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Wofür Frankreich einst belächelt wurde, das ist heute sein Stolz: Von vier Millionen Telefonanschlüssen im Jahr 1970 wurde auf Initiative des ehemaligen Staatspräsidenten Georges Pom-pidou das französische Telefonsystem auf heute 23 Millionen ausgebaut. Dank einer koordinierten nationalen Anstrengung sind heute 88 Prozent der Haushalte an das Telefonnetz angeschlossen. Der Ertrag dieser Anstrengungen: Jahresumsätze von rund 200 Milliarden Schilling!

Nicht genug damit: Ab 1978 wurde ein weiteres Kommunikationsnetz, „Transpac“, von der Post installiert. Es dient der Übermittlung numerisch verschlüsselter Information. In ganz Frankreich können Unternehmen ihre Datenverarbeitungsanlagen an dieses Netz anschließen und dadurch ihre Informationen und Dienste landesweit anbieten. Da „Transpac“ mit dem Telefonnetz verknüpft ist, verfügt Frankreich über eine sehr leistungsfähige Infrastruktur zur Weiterleitung von Daten.

Sie ist die Basis für einen neuen Markt von elektronischen Angeboten. Als erstes großes Projekt startete die französische Fernsprechdirektion das „elektronische Telefonbuch“. Ein erster Versuch (1981) mit nur 1500 Telefonteilnehmern wurde 1983 auf ein ganzes Departement ausgeweitet. Und seit Mai 1985 kann jeder Besitzer eines geeigneten Anschlusses, eines „Minitel“, Adresse und Telefonnummer jedes beliebigen französischen Teilnehmers vom Computer abfragen.

Was ist das aber, ein „Minitel“? Es handelt sich um ein Gerät, das aus einem Bildschirm und einer Tastatur, die der einer Schreibmaschine ähnelt, besteht. Eine eigene Vorrichtung schließt es ans Telefonnetz an. Neuere Modelle haben schon den Telefonapparat eingebaut, und seit heuer gibt es sogar Geräte mit Farbbildschirm.

„Minitel“ erspart also das Blättern im Telefonbuch. Weiß man etwa nur Name und Wohnort einer Person, so liefert einem das System alle Personen des Ortes mit diesem (oder ähnlichem) Namen auf den Bildschirm. Auf Anfrage produziert es auch eine Liste all jener, die einem bestimmten Beruf nachgehen, oder es „fahndet“ nach jemandem in einem ganzen Department...

Mittlerweüe gibt es rund eine Million „Minitel“-Anschlüsse. Die Post kommt mit der steigenden Nachfrage kaum mit. Der Boom wird dadurch begünstigt, daß man das Gerät nicht kaufen muß, sondern zu erschwinglichen Preisen - 200 Schilling monatlich für das einfachste Modell — mietet. Am Gerät selbst wolle man gar nicht verdienen, stellte der Generaldirektor der „Telecom-munications“, Jacques Dondoux, fest. Das große Geschäft sei mit der Benützung zu machen. Sie kostet — legt man jenen Tarif zugrunde, der bei rund 70 Prozent der 700.000 „Minitel“- Stunden verrechnet wird — derzeit 140 Schilling pro Stunde. Den Ertrag teilen die Post und der jeweilige Anbieter.

Diese 700.000 Stunden entfielen natürlich nicht auf Telefonbuch-anfragen. Auf dem Informationsmarkt gibt es vielmehr eine schon fast unüberblickbare Fülle von Angeboten. Sie lassen die „Minitel“-Bestellungen so rasch ansteigen (bis Ende 1986 sollen drei Millionen Geräte angeschlossen sein).

Da sind zunächst die elektronischen Zeitungen, ähnlich dem Te-letext-Angebot unseres Fernsehens. Martine Tournier, Herausgeberin des „Parisien Telemati-que“, illustrierte das Interesse am Beispiel ihrer Zeitung: 35.000 Abfragen träfen täglich ein. Durchschnittliche Dauer: zehn Minuten. Ihr Angebot ist auch gigantisch: Auf 20.000 Bildschirmseiten werden Nachrichten, Sport, praktische Information (Wetter, Lotto, Programme...) geboten. Besonderen Anklang finden aber die

Kleinanzeigen, die Leserbriefrubriken, Spiele und der „Maskenball“. In all diesen Sparten kommt nämlich der Leser zu Wort, kann er seine Meinung sagen.

Ein „Hit“ ist der „Maskenball“: Unter Pseudonym kann man sich anderen — ebenfalls anonymen — Teilnehmern als Gesprächspartner anbieten und mit einem von ihnen via Bildschirm ins „Gespräch“ kommen. Rund 50 Prozent der Anrufe sind solche anonyme Diskurse. Was bei Lesern gut ankommt, ist ja leicht festzustellen. Jeder Anruf wird ja wegen der Abrechnung registriert.

„Minitel“ bietet aber noch mehr: Man kann damit Bestellungen aufgeben und Reservierungen durchführen, Nachrichten hinterlassen, wenn der Gesprächspartner telefonisch nicht erreichbar ist. Selbstverständlich lassen sich aus den verschiedensten Dokumentationsarchiven Informationen abberufen. Ärzte können sich etwa über alle Medikamente, aber auch über Krankheitssymptome und Diagnosen Einzelheiten auf den Bildschirm holen.

Besonders weitreichend sind die Auswirkungen im Bankensektor. Uber „Minitel“ kann man die Kreditbedingungen einzelner Banken vergleichen, Wechselkurse erfragen, den Stand des eigenen Kontos eruieren oder Buchungen durchführen. „Videoban-que“ hat sich ganz auf diese Möglichkeiten eingerichtet. Mit 70.000

Kunden am „Minitel“ hat sie wohl die weltweit größte Klientel.

All das sind jedoch nur Anfänge. Denn die Franzosen forcieren die „Carte ä memoire“, eine „intelligente Karte“, die das Geldwesen revolutionieren soll. Was bringt diese Karte, die ähnlich aussieht wie unsere Bankomat-karten? Ihre Besonderheit: Sie ist mit einem Mikroprozessor ausgestattet und kann daher mit den Apparaturen, bei denen sie Verwendung findet, in ein vorprogrammiertes „Gespräch“ treten. Und das öffnet ihr ein weites An-wenduhgsfeld: Sie garantiert die Identität ihres Benutzers. Wird sie nämlich unbefugt verwendet, zerstört sie selbsttätig wesentliche Teile ihres Codes. Damit ist sie ein nahezu sicherer Schlüssel zu geschützter Information, etwa zum eigenen Konto. „Minitels“ werden in Zukunft solche Karten aufnehmen können.

Technik von übermorgen

Vor allem aber soll die Karte als „elektronisches Geld“ dienen. Bei automatischen Tankstellen, im Supermarkt, im Telefonautomaten könnte sie als „Zahlungsmittel“ fungieren. Auf der Karte würden unauslöschlich Zeit, Ort und Betrag der Zahlung festgehalten werden. Beim Verkäufer verblieben jene Informationen, die für die ihm zustehenden Abbuchungen von den Konten seiner Kunden nötig sind. Bald ist die Ära von Geld und Schecks zu Ende.

In Blois, Lyon und Caen wurde an 600 Zahlstellen und mit 100.000 Karten getestet, wie so etwas funktioniert. Die Erfahrungen reichen aus, um nun ein entsprechendes System für ganz Frankreich zu planen.

Aber nicht nur dazu soll die Wunderkarte dienen. In ihrem enormen Speicher sollen auch persönliche Daten aufscheinen: Name, Adresse, Impfungen, Allergien, Führerschein... Sogar als Schlüsselersatz bietet sie sich an. Weil sie praktisch nicht zu fälschen ist, verwenden sie jetzt schon einige Unternehmen anstelle von Schlüsseln.

Obwohl all das erst anläuft, arbeiten die Franzosen schon an der Technik von übermorgen: In Biarritz wird die vollständige Verkabelung mit Glasfaser geprobt. Dadurch können alle Medien über ein einheitliches Netz laufen. Uber dieses System wird heute in 1500 Haushalten folgendes geboten: ein Anschluß für 15 Fernse-programme und 15 Kanäle für Hi-fi-Wiedergabe sowie ein „Visio-phone“-Anschluß (= Telefon mit Bildschirm und eigener Kamera). Uber dieses neue Telefonnetz können somit auch Bilder transportiert werden. Haben die Gesprächspartner Lust dazu, können sie sich auch sehen.

Alle diese Geräte lassen sich zusammenschalten, sodaß etwa Haushalt A über „Visiophone“ eine Video-Kassette auf den Fernsehschirm von B überspielen kann. Aus Videobanken kann man dann Videogramme abberufen und Akustisches aus Hifi-Pools. Die Fernseher können sich nach dem Muster der Hitparaden durch Abstimmung ein eigenes Programm mixen. Für den Wahlvorgang steht das „Minitel“ zur Verfügung. Was Versandkaufhäuser heute in Buchform anbieten, wird dann über Bildschirm geliefert. Reisebüros preisen Ferien in Wort und Bild an, Auto-hersteller liefern Reparaturanweisungen ins Haus, Konferenzen werden nicht mehr in einem Saal, sondern am Bildschirm abgewik-kelt und Patienten konsultieren ihren „Hausarzt“ über „Minitel“ . . . Erste Reaktionen aus Biarritz lassen vermuten, daß auch dieses Angebot gut ankommt. Und wenn ich die Begeisterung der französischen Verantwortlichen richtig deute, dann ist damit zu rechnen, daß Frankreich in den neunziger Jahren ein Videoparadies sein wird.

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