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Der Mensch in der Gefahr

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Katastrophen faszinieren; es zu leugnen, wäre wirklichkeitsfremd. Das anhaltende Interesse für weit zurückliegende Schiffsuntergänge, Erdbeben, Flugzeugabstürze steht in sehr engem Zusammenhang mit dem Phänomen der die Lösch- und Bergungsarbeiten behindernden Menschenmassen bei Großbränden, schweren Straßenunfallen und so weiter. Mit dem Wort „Sensationsgier” ist über die Faszination so vieler Menschen durch solche Ereignisse wenig gesagt. Ihr tiefenpsychologischer Mechanismus wäre erst aufzuklären.

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Katastrophen faszinieren; es zu leugnen, wäre wirklichkeitsfremd. Das anhaltende Interesse für weit zurückliegende Schiffsuntergänge, Erdbeben, Flugzeugabstürze steht in sehr engem Zusammenhang mit dem Phänomen der die Lösch- und Bergungsarbeiten behindernden Menschenmassen bei Großbränden, schweren Straßenunfallen und so weiter. Mit dem Wort „Sensationsgier” ist über die Faszination so vieler Menschen durch solche Ereignisse wenig gesagt. Ihr tiefenpsychologischer Mechanismus wäre erst aufzuklären.

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Das haben sich die Autoren zweier Bücher, die je eine dem Gedächtnis besonders tief eingegrabene Seekatastrophe noch einmal aufrollen, freilich nicht vorgenommen. Hier wird vielmehr sachlich referiert: von Walter Lord, wie sich die Menschen auf der sinkenden „Titanic” verhalten haben, von Jochen Brennecke und Karl-Otto Dummer, einem der Überlebenden, was man über Ursachen und Hergang der „Pamir”-Katastrophe weiß.

Die emotionale Aufnahmebereitschaft, auf die beide Bücher zweifellos stoßen, hat ganz andere Wurzeln als das ebenso ewig-menschliche Streben, die Ursachen für gegenwärtig Geschehendes in der Vergangenheit zu suchen. Auch die Geschichte hat, freilich, nicht nur die Funktion, Kausalitäten aufzudecken. Sondern auch die existentielle Dimension, ihre typischen Aha-Erlebnisse angesichts des Ewig-Menschlichen. Der Erfolg der Katastrophen-Evergreens beruht aber wohl so gut wie ausschließlich auf ihrer existentiellen Komponente. Die Beschäftigung mit dem Tragischen hat sicher eine wichtige Funktion im Seelenhaushalt des Menschen: Reflexion über den Tod, Auseinandersetzung mit dem Tod in einer Form, in der das Grauen zum Nervenkitzel abgeschwächt wird wie der Krankheitserreger im Impfstoff. Die „Sensationsgier” als vielleicht sogar wichtige Funktion eines intakten Seelenlebens.

Angesichts von Schiffsuntergängen mischt sich das emotionale Gebanntsein durch die Katastrophe mit dem emotionalen Gebanntsein so vieler Menschen durch das Meer. Dazu kommt das Nebeneinander verschiedenster menschlicher Verhaltensweisen angesichts eines gemeinsamen drohenden Schicksals, der Kampf ums Überleben innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes.

Die Katastrophe der „Titanic” ist keineswegs zufällig zum meistbeschriebenen Schiffsuntergang aller Zeiten geworden. Das (bis dahin) größte Schiff der Welt, als „unsinkbar” hochgelobt, rennt, die einlaufenden Warnungen getreulich weitergebend, aber ohne, daß die Schiffsführung daraus Konsequenzen zöge, gegen einen Eisberg, reißt sich unter Wasser fast ein Drittel des Bodens auf und sinkt in zwei Stunden und 40 Minuten. Wird für alle Zeiten zum Symbol für die Hybris der Technik, und vielleicht nicht einmal so sehr für den Hochmut wie für das illusionistische Sicherheitsgefühl einer Epoche, die kaum zwei Jahre nach diesem denkwürdigen 14. April 1912 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges abrupt zu Ende ging.

Das Buch von Walter Lord erscheint 20 Jahre nach der englischen Originalausgabe erstmals auf Deutsch, als Taschenbuch. Walter Lord ging mit einem neuen Ansatz an das so oft behandelte Thema heran: Mit der Absicht, zu klären, welche der vielen überlieferten Details genauer Überprüfung standhalten, welche nicht. Ging die „Titanic” tatsächlich hell erleuchtet unter? Ja, die vielen Lichter in den Bullaugen und auf Deck erloschen erst unmittelbar bevor der riesige, bereits senkrechtstehende Schiffskörper endgültig in die Tiefe glitt. Hat die Schiffskapelle tatsächlich bis zum letzten Augenblick gespielt? Sie hat wirklich; Ragtime, ganz zuletzt aber nicht „Näher, mein Gott, zu dir”, sondern den Choral „Autumn”. Gingen all die Multimillionäre, die mit der „Titanic” versanken, wirklich als so untadelige Gentlemen in den Tod, wie es immer wieder erzählt wird? Genau so gingen sie unter: Zum Teil im Frack, Damen in die Boote helfend, Haltung bewahrend, gemeinsam mit ihren Stewards. Ist es wahr, daß sich der Reeder der „Titanic”, Bruce Ismay, in jener Nacht wenig heldenhaft verhielt? Er war jedenfalls unter den 58 geretteten Männern der Ersten Klasse (115 gingen unter) und erklärte später, er wisse gar nicht, wie er in eines der Boote gelangt sei. Hat sich Kapitän Smith tatsächlich auf der Kommandobrücke erschossen? Nichts deutet darauf hin - hingegen wollte ihn ein Zeuge pach dem Untergang des Schiffes mit einem Kind im Arm im Wasser treiben, ein anderer mit einem ermutigenden Zuruf für eine der Bootsbesatzungen untergehen gesehen haben. Verhielt sich die Mannschaft wirklich nur bei der Rettung der Erste-Klasse-Passagiere heldenmütig, während sich um das Schicksal der weniger zahlungskräftigen Passagiere niemand kümmerte? Genau so war es: In der ersten Klasse starben nur fünf der 139 Frauen (vier blieben freiwillig bei ihren Männern) und eines der sechs Kinder, in der zweiten Klasse starben 91 Prozent der Männer, 16 Prozent der Frauen und keine Kinder, in der dritten Klasse 88 Prozent der Männer, 45 Prozent der Frauen und 70 Prozent der Kinder, und hier war die Zahl der toten Kinder fast so hoch wie die der geretteten Männer aus der ersten Klasse. Im Zwischendeck war es noch viel schlimmer, insgesamt versanken mit der „Titanic” 81 Prozent der Männer, 23 Prozent der Frauen - und die Hälfte der Kinder.

Und: Ist es wahr, daß in den - viel zu wenigen! - Rettungsbooten zahlreiche Plätze frei blieben? Der Konstrukteur des Schiffes, Andrews, der ruhig in einem der Salons verharrte und mit der „Titanic” versank, erklärte Kapitän

Smith unmittelbar nach der ersten Inspektion der Schäden, daß die „Titanic” innerhalb von höchstens drei Stunden sinken werde, doch obwohl Zeit genug zur Verfügung stand, wurden die ersten Boote halbleer zu Wasser gelassen und angewiesen, vom Schiff wegzurudern. 1500 Menschen starben, 651 wurden gerettet; als das Schiff versunken war, unternahmen die Insassen von Booten, die nur zur Hälfte oder noch schwächer besetzt waren, nichts zur Rettung der im Wasser treibenden Menschen. Ein großer Teil der 1600 Ertrinkenden hielt sich noch einige Zeit über Wasser, aber nur 13 wurden in die Boote gezogen. In einigen wurde diskutiert, ob man dorthin rudern sollte, woher der Chor der Hilferufe kam, die einen taten nichts, andere vertrödelten wertvolle Zeit, im allgemeinen siegte die Angst, das Boot könnte unter den Händen der vielen Ertrinkenden umkippen. Eine Analyse dessen, was hinter dieser Tatenlosigkeit stand, wurde offenbar noch nie versucht, obwohl wir heute viel mehr über das menschliche Verhalten in

Ausnahms- und Extremsituationen wissen.

Negative Panik, Tatenlosigkeit, ja Lähmung’dürfte dabei häufiger sein als jenes Durchdrehen, das man mit dem Wort „Panik” üblicherweise assoziiert. Auch die „Disziplin” der zum Großteil blutjungen Menschen, die am 21. September 1957-also vor genau20 Jahren - mit dem deutschen Segelschulschiff „Pamir” in einen Wirbelsturm gerieten und starben, war wohl eher auf besagte Handlungslähmung zurückzuführen als auf eiserne Selbstbeherrschung: Viele von ihnen hockten verschreckt und apathisch auf dem Deck, als es ernst wurc(e. Auch hier: kein Geschrei, kein Um- sichschlagen, keine sichtbare Verzweiflung. Panik, nach innen gekehrt. Fehlverhalten eher als Nichtstun denn als Das-Falsche-Tun.

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Ein Überlebender dieses Unglücks, Karl-Otto Dummer, tat sich mit dem ebenfalls bereits das Thema recherchierenden Jochen Brennecke zusammen - das Ergebnis ist eine sehr detailreiche, ins Technische gehende, aber das Menschliche keineswegs vernachlässigende Suche nach den Ursachen dieses Ereignisses, dessen schockierende Wirkung vor allem darauf beruht, daß das Durchschnitts alter der 81 Pamir-Opfer kaum viel mehr als 20 Jahre betragen haben dürfte. Und: Viele konnten sich in die Boote retten, wurden aber von den Wellen wieder ins Meer gespült, starben an Entkräftung, wurden bei der gewaltigen internationalen Suchaktion übersehen, denn es gab zwar schon die signalfarbenen Schwimmwesten, auf der „Pamir” aber nur graue, die Proviantkonserven in den Rettungsbooten konnten nicht geöffnet werden, weil keine Öffner beilagen, und die Signalraketen waren nicht wasserdicht verpackt und konnten nicht verwendet werden. Das Resultat: Nur fünf Überlebende. Auch hier: Unnötige Opfer, zu spätes Lernen äus anderswo schon gemachten Erfahrungen.

Zwei Bücher also, die zu lesen sich lohnt, wenn man sich für ihr gemeinsames Über-Thema, den Menschen in extremer Situation, interessiert. Zwei Bücher, die zu denken geben. Allerdings haben ihre wesentliche Aussage nicht berührende, aber geradezu groteske Mängel: Walter Lord verliert kein Wort über die Vorgeschichte der „Titanic”-Katastrophe, nämlich die Gründe für deren verantwortungsloses Schnellfahren: Die Jagd nach dem „blauen Band”, der Atlantiküberquerung in Rekordzeit. Und viel zu wenig erfährt man über die Ergebnisse der Seegerichtsverhandlung. Dafür hat es sich zu den Dummer und Brennecke betreuenden Lektoren noch nicht herumgesprochen, daß derartige Bücher nicht als-Endlos-Textwurst hergestellt werden, sondern in Kapitel unterteilt und mit einem Inhaltsverzeichnis versehen werden sollten. Zum Glück ist ein Buch kein Schiff. Und kann daher auch nicht sinken. Wie die „Pamir”, die letzten Endes einer schlecht, einer in allen alten Segelschiffserfahrungen hohnsprechenden Weise verstauten Gerstenladung zum Opfer fiel.

DIE TITANIC-KATASTROPHE von Walter Lord, Wilhelm Heyne-Verlag, München 1977, Heyne-Buch 5379, 206 Seiten, zahlreiche Abbildungen, öS 44,70.

PAMIR EIN SCHICKSAL von Jochen Brennecke und Karl-Otto Dummer. Köhlers Verlagsgesellschaft, Herford 1977, 296 Seiten, 52 Photos auf Kunstdruckpapier, zahlreiche Karten und Abbildungen im Text, öS 338,80.

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