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Der Mensch ist das Maß

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In der Stadf ist die Technisierung am weitesten fortgeschritten, natürliche Abläufe sind weitgehend ausgeschaltet. Das müßte nicht sein. Es gibt Ansätze, wie es anders ginge.

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In der Stadf ist die Technisierung am weitesten fortgeschritten, natürliche Abläufe sind weitgehend ausgeschaltet. Das müßte nicht sein. Es gibt Ansätze, wie es anders ginge.

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Die bessere Nutzung der natürlichen Hilfsmittel, die wir in unserer Begeisterung für die Technisierung vernachlässigt haben, gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen für eine Gesundung der Städte.

Die Ergänzung der Wohnungen durch gut besonnte, ungestörte, uneingesehene Außenräume, auch wenn es nur kleine Gartenhöfe sind, ist zum Beispiel eines der entscheidendsten Kriterien für den Freizeitaufenthalt der Bewohner.

Vom Fessel- und vom Ifes-In-stitut durchgeführte Befragungen der Bewohner von Reihen-und Atriumhäusern in der Gartenstadt Puchenau einerseits und vergleichbaren Hochhäusern und mehrgeschoßigen Großhäusern andererseits haben ergeben, daß die Bewohner der Atriumhäuser drei Viertel ihrer Feiertage und Wochenenden zu Hause verbringen und nur ein Viertel außerhalb, während es in Großhäusern umgekehrt ist.

Die Wochenendfluchten der Städter sind aber eine der Hauptursachen unserer Umweltprobleme: Sie verursachen die Versiede-lung der Landschaft. Die Belastung der Ausfallstraßen ist an den Wochenenden doppelt so hoch wie an Werktagen.

Abgesehen von den enormen privaten und öffentlichen Ausgaben für Verkehrsstraßen, Verkehrspolizei, Unfallspitäler bis zu den Unfallrenten hin liegt hier eine außerordentlich wichtige Ursache der Umweltverschmutzung mit all ihren Folgen. Das alles könnte durch den Bau von Einfamilienreihen- und Atriumhäusern auf sparsamen Parzellen, für die ich schon seit 40 Jahren ununterbrochen plädiere, zu einem großen Teil vermieden werden — bzw. es hätte vermieden werden können.

Das alles ist mit normalen Wohnbaukosten ohne nennenswert größeren Platzbedarf als beim normalen Wohnungsbau zu erreichen.

Entscheidend für die Durchführbarkeit eines solchen Konzepts sind sparsame Parzellen für unmittelbar aneinandergereihte Atrium- und Reihenhäuser und ihre Erschließung durch schmale Fußwege - durch „Gassen" -, die ja auch die Wohnviertel der vorindustriellen Städte und Siedlungen aller Zeiten und Kulturen charakterisiert haben!

Bei all dem ist Kleinräumigkeit die Voraussetzung für Wohnlichkeit. Wenn die Gassen nicht breiter sind als ein Wohnraum oder Wohnhof, und wenn sie so geschützt sind vor Verkehrsgefahren, Verkehrslärm, Abgasen, usw...., spielen die Kinder hier „wie zu Hause".

In wieviel höherem Grad Sied-lungen vorindustrieller Zeit ' Räumlichkeit und Schutz geboten haben als die „moderne Großstadt", zeigen u. a. auch die mit Arkaden überdeckten Bürgersteige der alten Städte - Bequemlichkeiten, die unsere Zeit des Weltraumfluges sehr bezeichnenderweise völlig vergessen hat.

Denn gedeckte Gänge unter Häusern oder unter Flugdächern sind wirtschaftlich keine nennenswerte Belastung. .

Noch wichtiger ist freilich der viel geringere Flächenbedarf dieser Bebauung: Sie verbraucht kaum ein Fünftel der Fläche, die freistehende Einfamilienhäuser erfordern. Das bedeutet entsprechend kürzere Wege im täglichen Verkehr, bessere Sozialkontakte, mehr urbane Atmosphäre, mehr Nachbarschaft, mehr Wohnlichkeit.

Aber die große Chance für einen solchen Wohnungs- und Städtebau ist während des Wiederaufbaus nach dem Krieg vertan worden — durch den „Fortschritts"-glauben, den technischen Ehrgeiz, die Naturfremdheit und die Gewinn- und Repräsentationssucht der Techniker und ihrer Auftraggeber!

Schon lange vor der „grünen Welle" habe ich immer daran erinnert, daß ein Baum vor dem Fenster die beste Klimaanlage ist, die ohne Bau- und Betriebskosten Sauerstoff, Luftfeuchtigkeit und Kühlung, und Blüten und Früchte dazu liefert, ohne „Regelung" im Sommer Schatten gibt und im Winter die Sonne durchläßt und außerdem von Jahr zu Jahr größer und schöner wird — hundert Jahre lang und mehr. Welcher Mechanismus kann das?

Sogar über Rasenflächen ist die Luftfeuchtigkeit viel höher und die Temperatur niedriger als über benachbarten Bürgersteigen. Der Klimatologe Kratzer hat schon vor Jahrzehnten vom „Wüstenklima" der Großstadt gesprochen. Die nötige Durchsetzung der dicht und hoch bebauten Stadt mit öffentlichen Grünräumen muß einerseits an das Erbe an alten Parks und Gärten anknüpfen, andererseits und vor allem aber an die Topographie, ist von den landschaftlichen Verhältnissen abhängig.

Je natürlicher und ungestörter die örtlichen Ökosysteme erhalten werden, umso leichter wird sich Vegetation entwickeln und mehren lassen, umso charakteristischer wird aber auch das Stadtbild sein, wie man am Beispiel Wiens mit seinem so typischen Gegensatz zwischen Wienerwald einerseits und der Donauniederung andererseits sieht.

Die derzeitige sehr ernste Gefährdung des Baumbestandes in den Großstadtstraßen ist in Wien durch die Absenkung des Grundwasserstandes um sechs Meter im Zusammenhang mit Tiefbauten verursacht, aber auch durch die wasserdichte Pflasterung aller Fahrbahnen und Bürgersteige, durch Drainagierung des Untergrunds durch Kanalisation, so daß die Bäume weder von unten noch von oben Wasser oder Nahrung erhalten, also verhungern, verdursten und ersticken. Demgegenüber waren alte Steinpflasterungen wasserdurchlässig. Zumindest alle Bürgersteige könnten auch heute wasserdurchlässig gepflastert sein.

Aber in einer Zivilisation, deren Konzept bisher die Beherrschung, Unterwerfung und Ausnutzung aller natürlichen Ressourcen war, ist von der Rücksichtslosigkeit gegenüber Vegetation bis zu ihrer sinnlosen und unnötigen Vernichtung nur ein Schritt, wie am besten unser Straßenbau zeigt: Wenn z. B. im Burgenland in den vergangenen Jahren Tausende von alten Nußbäumen und Maulbeerbäumen der Begradigung und Verbreiterung unbedeutender Landstraßen geopfert worden sind und noch weiter werden, so wird damit immer höhere Geschwindigkeit ermöglicht und so zur Überschreitung der Geschwindigkeitsgrenzen verlockt, die die Polizei mit Recht zu senken versucht.

Einem ebenso sinnlosen technischen Perfektionismus verdanken wir ja auch die besonders gefährliche Umwandlung unserer natürlichen Bäche und Flüsse in steinerne Kanäle, und damit die fortschreitende Austrocknung unserer Landschaft, aber auch die Überschwemmungen an den Unterläufen, die dann wieder die großen Ausgaben für Hochwasserschutz verursachen.

Vielleicht ist nichts charakteristischer für den Umschwung von einem ökologischen Denken, das bis vor hundert Jahren auch beim Bauen selbstverständlich war, zur Technokratie von heute, als der behördliche Wasserbau, dessen Methoden ihren Ursprung in der sogenannten „Stadtentwässerung" der Jahrhundertwende haben. In der damaligen, durchwegs mit wasserabweisenden Stoffen bedeckten Mietskasernenstadt mußte alles auf Dächer, Bürgersteige und Fahrbahnen fallende

Regenwasser so rasch wie möglich in die Kanäle geleitet werden. In diesen als technisches Gebäude aufgefaßten Städten war auch für Flüsse und Bäche durch lückenlos gemauerte Ufer vorgesorgt, wie das der Wienfluß und die Donauregulierung zeigen.

Diese Entwässerungssysteme sind schon in einer modernen, aufgelockert strukturierten Stadt nicht mehr nötig und werden bei immer weiterer Ausdehnung der Agglomerationen immer sinnloser. Am sinnlosesten ist ihre Anwendung natürlich in freier Landschaft. Wir haben im allgemeinen vergessen, daß sich noch vor 120 Jahren jenseits des Donaukanals anstelle des heutigen 2., 21. und 22. Bezirks riesige Auwälder mit zahllosen, dauernd wechselnden Wasserläufen ausgebreitet haben, mit überreicher Flora und Fauna, von der die Berichte über die damaligen Fischmärkte Auskunft geben, auf denen noch Störe und Huchen angeboten wurden.

In den alten Städten finden wir Flußufer meist in ihrer natürlichen Form erhalten, als wesentliches Charakteristikum ursprünglicher Landschaftselemente im Stadtbild. Daneben sind sie aber auch Bereiche intensiven städtischen Lebens, das an den steinernen Böschungen regulierter Flüsse unmöglich geworden ist. Diese Art von Regulierung hat die Stadt von den Flüssen isoliert, die Ufer unbewohnbar gemacht, so wie der Autoverkehr die Straßen unbewohnbar gemacht hat.

ökologisch richtig ist immer die möglichst dezentrale Entnahme des Wassers aus vielen Einzelbrunnen, aber auch die dezentrale Rückführung der Abfälle durch Kompostierung und der Abwässer durch Versickerung in den Untergrund. Das bedeutet möglichst durchlässige Pflasterungen usw. Dazu kann auch im Garten jedes Einfamilienhauses durch den Kompostplatz und die Abführung der Dachwässer in Vegetationsbecken beigetragen werden, die überreiche, vielfältig wirksame und auch sehr schöne und interessante Lebenszentren bilden.

Das heutige Primat der wirtschaftlichen und technischen Gesichtspunkte muß von einem Primat biologischer, ökologischer und psychologischer Gesichtspunkte abgelöst werden. An die Stelle kommerziellen und technokratischen Diktats muß ein Maximum an persönlicher, selbständiger Initiative mitiidem Ziele restloser Verantwortlichkeit gegenüber dem gesamten Lebensraum treten. Das zu erreichen wird allerdings noch sehr energischer Bemühungen bedürfen — soferne wir überleben wollen!

Auszug aus einem Vortrag, den der Architekt, Univ.-Prof. Roland Rainer bei einer Tagung des Osterreichischen Instituts für Bau-lologie in St. Wolf gang im Herbst 1984 gehalten hat.

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