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Der Mut der ersten Stunde

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Militärputsche sind heute fast schon ein alltägliches Ereignis. Einst die von einer schockierten Welt die widerstrebend zur Kenntnis genommene, skandalöse Ausnahme von der demokratischen Regel, wurden sie in weiten Teilen der Welt längst zur üblichen Regierungsform — so etwa in Lateinamerika, wo sich kaum noch eine auf einwandfrei demokratischem Weg zur Macht gelangte Regierung behauptet. Auch in Afrika greifen immer häufiger Soldaten nach der Machit.

Dabei zeichnen sich immer deutlicher zwei grundverschiedene Arten von Militärregimes ab. In der Mehrheit der Fälle greifen Soldaten mit dem festen Entschluß nach der Macht, sie auch zu behalten. Sie sind die eigentlichen Militärdiktatoren. Aber es gibt auch den Fall, daß Soldaten auf der Seite der Demokraten stehen — neuestes Beispiel: Portugal —, und daneben Militärregimes, die offensichtlich bemüht sind, in ihrem Land jene Veränderungen herbeizuführen, die notwendig sind, und sich dabei bemühen, zwar autokratisch, aber so human wie möglich vorzugehen. Klassisches Beispiel: Peru.

Dabei ist es heute längst nicht mehr so, daß sich erst im Laufe von Wochen oder Monaten herausschält, zu welcher Gruppe ein Militärregime gezählt werden kann. Die „positiven Militärregimes“ geben sich vielmehr oft bereits in den ersten Stunden nach der Machtübernahme zu erkennen. Zwei prominente Beispiele dafür: Türkei 1960, Portugal 1974.

Während demokratisch gewählte Führungsschichten vor allem in Entwicklungsländern mit deprimierender Ausdauer immer aufs neue dieselben negativen Erfahrungen machen und immer wieder nach demselben Modell Schiffbruch erleiden (Musterbeispiel: Indien), scheinen die Militärputschisten in maximalem Ausmaß voneinander zu lernen. Zwei grundlegend verschiedene Putschmodelle stehen hier einander gegenüber. Das eine, das man als griechisches, aber ebensogut auch als chilenisches oder indonesisches Modell bezeichnen könnte, stellt bereits bei der Planung beziehungsweise Durchführung des Putsches alle Maßnahmen darauf ab, die politischen Kräfte dauerhaft auszuschalten und zu ersetzen und Opposition nicht zuzulassen, wobei unter Opposition alles •rubriziert wird, was nicht den Vorstellungen der neuen Herren im vollen Umfang entspricht Alle als faschistisch oder faschistoid zu bezeichnenden Militärregimes gehörer dieser Gruppe an.

Der andere Typus hat das wesentlich begrenztere Ziel, diktatorische oder zur Diktatur hinstrebende politische Strukturen zu beseitigen unc1 demokratische Verhältnisse her- oder wiederherzustellen. Militärjunten dieser Art gaben sich in zwei markanten Fällen dadurch zu erkennen, daß sie sich zur Erreichung ihrer Ziele bereits in den ersten Stunden auch auf die zivilen politischen Kräfte stützten.

Es kann als absolut sicher vorausgesetzt werden, daß ein Mann wte Spinola das klassische Beispiel seines Staatsstreiches, den türkischer Militärputsch des Jahres 1960, eingehend studiert hat, denn es gibt darüber einige wenige, aber sehi gründliche wissenschaftliche Analysen, die, meist in englischer Sprache in allen einschlägigen Fachbibliotheken zu finden sind. Allein unter dieser Voraussetzung läßt sich über die Absichten eines Spinola bereits einiges sagen, denn Spinola hat sich in den ersten Stunden nach seiner Machtübernahme kaum anders verhalten als seinerzeit die türkischen Offiziere, deren Beispiel von allen auf Beibehaltung der Macht ausgehenden Militärputschisten als Lehre betrachtet wird, wie man es nicht machen darf.

Die grundlegende Lehre des türkischen Militärputsches lautet: Eint Militärjunta, die unmittelbar nach ihrem Coup den traditionellen politischen Kräften — oder einem Teil von ihnen — Wirkungsmöglichkeiten einräumt, setzt damit einen von den Militärs nach einiger Zeit nur noch schwerlich zu kontrollierenden Prozeß in Richtung auf die Her- oder Wiederherstellung einer parlamentarischen Regierungsform in Gang. Nur die totale Ausschaltung und Mundtotmachung alles dessen, was sich entweder (wie in Griechenland) als die „Kräfte der Vergangenheit“ oder (in Chile) als die „zersetzenden, destruktiven Kräfte des Materialismus“ diskreditieren läßt, wenn eine freie Auseinandersetzung und damit jede öffentliche Erwiderung brutal unterbunden wird, sichert einer Militärjunta die längerdauernde Herrschaft.

In Chile hat der in den USA geschulte Pinochet das eine oder andere in jeder militärwissenschaftlichen Bibliothek der USA greifbare schmale, aber lehrreiche Werk zweifellos gründlich studiert und die Erfahrungen der türkischen Offiziere offensichtlich beherzigt, weil er sie nicht wiederholen, sondern unangefochten herrschen wollte. Ohne diese Kenntnisse hätte ein Pinochet vielleicht, oder wöhl wahrscheinlich, die ihm weltanschaulich nahestehenden Christdemokraten nicht so total vor der Mitwirkung an der Politik ausgeschlossen. Zwischen Chile und der, Türkei bestand insofern eine interessante Parallele, als in beiden Ländern in den Augen jener Schichten, auf deren Sympathie die Putschister rechnen konnten, nur ein Teil dei politischen Kräfte (jene, die in dei Türkei hinter Menderes, in Chile hinter Allende standen), keineswegs aber — wie etwa in Griechenland — der Parlamentarismus selbst diskreditiert erschien, während, in der Türkei um Inönü, in Chile um Eduardo Frei geschart, eine organisatorisch und moralisch intakte, nicht kompromittierte Opposition bereitstand, um die parlamentarische Kontinuität fortzuführen — eine Opposition zumal, die keineswegs, wie etwa in Griechenland, als rot verteufelt werden konnte. Was den Putsch dei' chilenischen Militärs von dem der türkischen so gründlich unterschied, war der unbedingte Wille der chilenischen Putschisten zur Macht. Dieser Wille zur Macht konnte, in Kenntnis der türkischen Erfahrungen, eine Mitwirkung ziviler Politiker, mochten sie auch weltanschaulich mit den Offizieren sympathisieren, nicht zulassen.

Was den portugiesischen Grafen Spinola mit dem türkischen Offizierssohn Gürsel verbindet, ist den offensichtliche Mut zum demokratischen Risiko, dessen Ausmaß Spinola klarer gekannt haben muß ah die türkischen Vorgänger.

In Portugal war es offensichtlich eine ' ausgemachte Sache, daß dis exilierten Oppositionspolitiker sofort nach der Machtübernahme der Militärs würden heimkehren dürfen. In Ankara anderseits landete arr Morgen des 27. Mai 1960 schon wenige Stunden nach Gürsel, den die Verschwörer unmittelbar nach derr Putsoh von seinem Wohnsitz in Izmir mit einem Sonderflugzeug in die Hauptstadt holen ließen, um die Staatsführung zu übernehmen, eine weitere Sondermaschine aus Istanbul, die sieben Männer in die Hauptstadt brachte — jene Männer, denen die 38 Offiziere der Junta eine Aufgabe zugedacht hatten, die in ihren Augen als die wichtigste erschien die in diesen Stunden zu vergeber war. Es handelte sich um Professor Onar und sechs weitere Professorer der juridischen Fakultät von Ankara, die eine neue Verfassung fü die Türkei ausarbeiten sollten.

Da seit Jahren ein breiter Kon sensus in den grundlegenden Frager bestand, meinte Onar, diese Arbeit in einem Monat bewältigen zu können — es stand ohnehin fest, daß die Türkei ein Zweikammersystem statt des alten Einkammersystems unc7 ein Verfassungsgericht bekommen und ein neues Wahlrecht die proportionale Verteilung der Sitze entsprechend dem Verhältnis der Wählerstimmen sicherstellen sollte.

Der Aufeinanderprall der Meinungen in der „Onar-Kommission“ verschaffte dem „Komitee der Nationalen Einigkeit“, dem Offizierskomitee NUC, einen Vorgeschmack auf den bevorstehenden „Dissens im prinzipiellen Konsens“. Denn es erwies sich nur allzubald, daß die Architekten einer neuen Verfassung mit diametral entgegengesetzten Auffassungen an die Arbeit gingen. Ihre grundsätzlichen Positionen wurden als „legalistische Schule“ und „politische Schule“ etikettiert.

Die Offiziere, die die Macht mit der Absicht, sie nach zwei oder drei Monaten an ein neues Parlament und eine neue Regierung abzugeben, an sich gerissen hatten, sahen sich sehr bald in dem Dilemma, angesichts eines sich von Monat zu Monat verschleppenden Prozesses politischer Willensbildung, der — während der Sistierung der Parteien — in den mit der Verfassungsfrage beschäftigten Kommissionen stattfand; die Macht behalten zu müssen, ohne von ihr wesentlichen Gebrauch machen zu können.

Denn ein Rückzieher, etwa eine autoritäre Entscheidung in eine: Frage, die nun einmal Zivilisten anvertraut worden war, hätte der Bruch mit der städtischen Intelligenz bedeutet, auf deren Sympathie sich die Müitärjunta stärker stützer konnte als auf die Panzer und Bajonette, einen Bruch mit jenen Schichten, die eigentlich die Träger der türkischen Politik in jener Phase zwischen Putsch und Neuwahlen waren. Man kann sagen, daß die Armee auf der einen, die Intellektuellen und die vorerst durch keiner Wahlentscheid legitimierten zivilen Politiker auf der anderen Seite einander moralisch stützten.

Mit der Heranziehung eigenständiger ziviler politischer Kräfte setzte das Komitee einen Prozeß in Gang, der, zunächst langsam, dann immer schneller, auf die Wiederherstellung voller Demokratie hindrängte und sich immer stärker als irreversibe“ erwies.

Selbstverständlich spaltete diese Situation das NUC in zwei Gruppen, eine, die unbeirrbar auf dem ursprünglichen Ziel der Putschisten, Freiheit und Demokratie wiederherzustellen und so schnell wie möglich in die Kasernen zurückzukehren, beharrte, und eine andere Gruppe, dit der Meinung war, wenn das Militäi schon einmal an der Macht sei, sollt es auch versuchen, jene Reformen durchzuführen, zu der sich demokratisch gewählte Regierungen nich hatten durchringen können und, infolge konservativer Parlamentsmehrheiten auf Grund einer breiten islamkonservativen Wählermehrheit in den 40.000 türkischen Dörfern, nicht hatten durchringen wollen. Ob es ein Glück für die Türkei war, daß diese Gruppe der 14 Radikalen im NUC unterlag und aus dem Komitee ausgestoßen wurde, ist auch heute noch eine der großen historischen Streitfragen in der Türkei. Als sicher kann angesehen werden, daß auch im Falle eines Sieges dieser Gruppe das türkische Militärregime nicht in eines nach griechischer Art eingemündet wäre, eher wäre der Türkei dann eine weitere Phase kemalisti-scher Reformen (sprich: radikale Modernisierung und Verwestlichung) beschieden gewesen.

Die türkischen Offiziere haben nur eine einzige echte Kraftprobe mit den Zivilisten gewagt, indem sie 147 Universitätsprofessoren zwangspensionierten und in dieser Auseinandersetzung mit dem energisch auf seiner Autonomie beharrenden akademischen Bereich nicht gerade glänzend abgeschnitten. Die wesentlichen Probleme des NUC betrafen die inneren Schwierigkeiten der Junta — und Meinungsverschiedenheiten der 38 und (nach der Ausstoßung der 14 Radikalen und einem Todesfall) schließlich nur noch 23 NUC-Mit-glieder und dem „Rest der Armee“.

Als die Junta abtrat und die Macht an die Abgeordneten eines neugewählten Parlaments beziehungsweise eine neue Regierung abtrat, hatte sie die Kontrolle sowohl über den Rest der Armee als auch über die Parteien weitgehend verloren. Der „Rest der Armee“ wiederum folgte seiner lupenrein republikanischen Tradition und dem eigenen Selbst Verständnis als politisch willenloses Werkzeug jeder demokratisch gewählten und demokratisch agierenden Regierung, so daß sich die Rückkehr zum Parlamentarismus eineinhalb Jahre nach dem Coup ebenso reibungslos vollzog wie seinerzeit der Ubergang von der Diktatur Inönüs in seiner Rolle als politischer Testamentsvollstrecker Atatürks zu dem von diesem stets als Endziel anvisierten westlichbürgerlich-parlamentarischen Staat.

Als Lehre blieb für alle späteren potentiellen Militärputschisten die in allen Untersuchungen über die' eineinhalb jährige Militärdiktatur irr der Türkei herausgeschälte Erkenntnis: Die Erosion der militärischen Autorität begann in dem Augenblick als nicht mehr (oder nur durch einen neuen, überaus fragwürdigen militärischen Kraftakt) umkehrbarer Prozeß, als die Offiziere das Risiko eingingen, mit Juristen, Staatsrechtlern und zivilen Politikern, politischen Professionals, denen sie als Amateure unterlegen sein mußten, gleichberechtigt zusammenzuarbeiten. Also unmittelbar nach dem Coup.

Die griechischen und viele spätere Putschisten haben daraus den Schluß gezogen, die politischen „Kräfte der Vergangenheit“ geschlossen in den Untergrund zu verbannen und sich auf jene Mittel zu stützen, die sie am besten beherrschten, nämlich die der Gewalt.

In Portugal hingegen hat Spinola, so wie die türkischen Offiziere von der Zustimmung einer hier vielleicht noch viel breiteren Öffentlichkeit getragen, das Risiko des Zusammenwirkens mit den politischen Kräften gewagt — wenigstens scheint es so. Und auch hier zeichnet sich bereits der Eindruck ab, daß mit der Heimkehr der exilierten Politiker die Stunde der Wahrheit, nämlich demokratischer Wahlen und einer Regierungsbildung auf Grund des Wahlergebnisses, unwiderruflich angebrochen ist. Offen ist dabei vor allem die Frage, ob es Spinola gelingt, Portugal vor dem Eintritt in ein neues Zeitalter des Parlamentarismus (hoffentlich ohne Mentalreservationen) von der Bürde der ungelösten Probleme in Afrika zu befreien, sprich, die bereits offiziell erwähnte „politische Lösung“ für die Kolonien zu finden — oder ob die junge Demokratie eines Landes, das kaum Erfahrung mit der Demokratie sammeln konnte, in erster Stunde einer gefährlichen Zerreißprobe ausgesetzt wird.

Offen ist aber auch die Frage, welche Rolle die Armee wird spielen wollen, welche Rolle ihr künftig wird zugestanden werden können, welcher Kompromiß zwischen diesen beiden Blickpunkten zustande kommt. Portugal ist jedenfalls nach einem langen Zögern in die Zukunft aufgebrochen. Der Wegweiser deutet nach Europa. Aber das Ziel ist fern.

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