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Der Mythos der Naturwissenschaft

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Vorige Woche fand an der Technischen Universität Wien ein Symposium zu Darwins 100. Todestag statt, auf das die FURCHE noch zurückkommen wird. Hier vorläufig ein kritischer Beitrag zum Anspruch des Darwinismus.

Wird etwas Nichtmeßbares für wahr gehalten, so gehört das — in bezug auf die moderne Naturwissenschaft — zum Bereich des Glaubens. Ohne zu glauben, kann der Mensch nicht denken. Auch der Ungläubige glaubt, daß er nicht glaubt (Ernst Gut-ting). Sind doch die Atheisten besonders empfindlich, wenn ihre Glaubensgefühle angetastet werden. In dem Maß, wie der Glaube an Gott aus der Wissenschaft verdrängt wurde, ist der Glaube an die Wissenschaft gewachsen. Das heißt, da alle Wissenschaft Menschenwerk ist, der Glaube, die Welt aus dem eigenen Ich begreifen zu können. Also der Hochmut intellektueller Eitelkeit oder die alte erste Sünde: sein zu wollen wie Gott.

Was der Aufkärung der Enzyklopädisten fehlte, war eine plausible Erklärung für die Existenz des Lebens. In seiner Jenenser Logik schreibt Hegel: „Am Leben gehen dem Denken ... schlechthin alle seine Gedanken auf; die Allgegenwart des Einfachen in der vielfachen Äußerlichkeit ist für die Reflexion ein absoluter Widerspruch, ein unbegreifliches Geheimnis.” Für die Entstehung der Planeten hatten Kant und der Marquis de Laplace eine Hypothese ausgedacht, dank welcher — wie letzterer zu Napoleon meinte — die Wissenschaft die Hypothese Gott nicht mehr benötigte.

Die wachsende Zahl von Hypothesen, die sich zwischen die wissenschaftlich bewiesenen Tatsachen zu drängen begannen, also zwischen die gemessenen Größen, führten in eine zunehmende Ent-wissenschaftlichung der Wissenschaft. Der zentrale Mythos der modernen Naturwissenschaft ist der (bereits von gewissen Theologen übernommene) Mythos von der Entmythologisierung.

Die peinliche Lücke in der Welterklärung der Materialisten war also die Tatsache des Lebens. Eine plausible Erklärung für die Mannigfaltigkeit der Schöpfung blieb dem Engländer Charles Darwin vorbehalten. Mit seinem Werk „Uber die Herkunft der Arten durch natürliche Zuchtwahl” lieferte er den zur vollständigen Mythologisierung der Naturwissenschaft fehlenden Text. Dem Glauben an die Wissenschaft waren jetzt keine Grenzen mehr gesetzt. Darwin hatte sich einen Mechanismus ausgedacht, welcher so abzulaufen vermochte, daß auch, für die Lebensformen die „Hypothese Gott” überflüssig war.

Seit Darwin ist der Glaube an die Wissenschaft zu den Ideologien des Materialismus entartet, deren gesellschaftlich wirksamste, der Marxismus, ohne Darwinismus eine Totgeburt geblieben wäre. Karl Marx und Friedrich Engels begrüßten dankbar das „mis-sing link” zur materialistischen Erklärung der Welt. Die spezielle Dankadresse, mit welcher sich der Prokurator des Klassenkampfes an den Erfinder des Artenkampfes wandte, wurde von diesem aus gesellschaftlichen Gründen zurückgewiesen: Charles Darwin war durch seine Heirat mit Emma Wedgwood mit der englischen Steingutmanufaktur verschwägert und konnte so als ein Mitglied der Klasse der Kapitalisten in behaglicher Ruhe seine Theorien vom „Uberleben des Tüchtigsten” schreiben.

Die Zivilisation, die ihm dies gestattete, ist aus der Entartung jener Kultur hervorgegangen, wo nicht der Tüchtigste, sondern der Liebesfähigste der Beste ist: das Christentum. Der sich heute abspielende Untergang des Materialismus ist der letzte Akt in der Tragödie der von Habgier mißbrauchten Botschaft Christi: Die Menschen wollten sehr wohl die Freiheit, die ihnen Chris.tus gebracht hat, nicht aber seine Liebe. Aus diesem Haben statt Sein entstand eine Freiheit von Verantwortung statt eine Freiheit für Verantwortung: die sogenannte wertfreie Wissenschaft mit ihrem Darwinismus.

Wer befürchtet, eine nach moralisch-ethischen Werten sich orientierende Wissenschaft laufe Gefahr einer Ideologisierung, sei daran erinnert, daß die gefährlichste Ideologie die Wertfreiheit ist. Auf dem Prinzip vom „Uberleben des Tüchtigsten” sind wohl Revolutionen, nicht aber Moral und Ethik zu begründen. Es führt stets in den Kampf aller gegen alle. Unser darwinistisches Wirtschaftsleben unterscheidet sich immer weniger von einer permanenten Kriegswirtschaft, würde doch eine sofortige Einstellung der Waffenproduktion die Wirtschaft der Technokratien in Ost und West schwer erschüttern.

Charles Darwin ist keineswegs der Begründer des Gedankens von einem Werden in der Biosphäre, also einer biologischen Evolution. Wir brauchen uns bloß an die Urpflanze Goethes zu erinnern (der allerdings vergeblich auch ein Urtier zu schauen versuchte). Doch begann die Kongregation der Wissenschaftsgläubigen mit Darwin zu wachsen, weil diesem in der Epoche der aufstrebenden Technik, wo die Machbarkeit aller Dinge nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien, die erste „Mechanisierung” der Biologie gelungen war: Der stärkere Tötungsmechanismus siegt über den schwächeren Tötungsmechanismus.

Von der im Deutschen Idealismus aufgeblühten Dialektik wurde ihm vom zitierten Hegel tüchtige Schützenhilfe geleistet, der in der Negation der Negation den Tod zum Schöpfer erkürt. Heute ist die Wissenschaft dermaßen vom Glauben an die Wissenschaft durchdrungen, daß es immer schwieriger wird, den Mythos von der Wissenschaft zu unterscheiden.

Eine Wissenschaft, die mit Jahrmillionen rechnet, darf aus ein paar Jahrhunderten Erfahrung keine Schlüsse für eine Konstanz ziehen. Auch im Bereich der physikalischen Gesetze ist eine Evolution möglich. Die Frage „Schöpfung oder Evolution?” ist anmaßend. Für Gott ist beides möglich: Schöpfung durch Prägung und Schöpfung durch Werdung, durch Immanation und durch Evolution.

Nach der Uberwindung des Materialismus wird die Wissenschaft keines Mythos mehr bedürfen, keines Glaubens mehr an sich selbst. Die Wissenschaftler werden wieder an Gott glauben, wie es ihre Großen immer getan haben. So Max Planck: „Beide, Religion und Naturwissenschaft, bedürfen zu ihrer Betätigung des Glaubens an Gott. Für die eine steht Gott am Anfang, für die andere am Ende alles Denkens.”

Oder Darwin in seiner Autobiographie: „Glaubt man, wie ich es tue, daß der Mensch in weit entfernter Zukunft ein weit vollkommeneres Geschöpf als heute sein wird, so ist es ein unerträglicher Gedanke, daß er und alle anderen empfindenden Wesen nach einem so langen fortdauernden langsamen Fortschritt zu vollständiger Vernichtung verurteilt sein sollten. Denjenigen, die die Unsterblichkeit der menschlichen Seele annehmen, wird die Zerstörung unserer Welt nicht so furchtbar sein.”

Der Autor lehrt physikalische Chemie an der Universität Basel.

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