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Der neue Exodus
Amerika schloß seine Tore für Sowjetjuden. Antisemitische Sentiments vertreiben Zehntausende Juden aus der UdSSR. Israel muß mit einer riesigen Immigrationswelle rechnen.
Amerika schloß seine Tore für Sowjetjuden. Antisemitische Sentiments vertreiben Zehntausende Juden aus der UdSSR. Israel muß mit einer riesigen Immigrationswelle rechnen.
Es war Mitternacht im Ben-Gurion-Flughafen bei Tel-Aviv. Rund 150 Neueinwanderer aus Rußland waren soeben eingetroffen. Die meisten sprachen Russisch. Einige gingen an die öffentlichen Telefone, um ihre Verwandten anzurufen und ihnen mitzuteilen, daß sie eingetroffen sind. Alles ging so schnell, daß die meisten vorher ihre Ankunft bei ihren Nächsten nicht anmelden konnten. Einige Kanzleiräume im Terminal wurden vom Eingliederungsministerium zwecks Registrierung belegt. Vor jeder Türe warteten Dutzende. Erst nach sechs Stunden wurden die Neueinwanderer in ihre Wohnungen oder Hotels geschickt. Viele hatten sich durch Freunde oder Verwandte Wohnungen mieten lassen, andere gingen erst für einige Tage ins Hotel, um sich anschließend eine Wohnung zu suchen.
Der 39jährige Lev Kaufmann, seine Frau Jelna (35) und der Sohn Burja (10) aus Leningrad wurden von niemandem am Flughafen erwartet. Sie haben Freunde in Raanana, einer Provinzstädt in der Nähe Tel-Avivs, die bereits neun Monate hier sind und für sie eine Zwei-Zimmer-Wohnung mieteten. Die Regierung gibt ihnen einen Wohnungszuschuß von 575 Nis (Schekel) im Monat, dabei kostet ihre Wohnung 720 Nis und Lev verdient noch nichts. Der Wirt will seine Miete ein Jahr im voraus. Die Kaufmanns haben kein Geld und wandten sich an das Eingliederungsministerium. Dieses versprach zu helfen, doch bis jetzt droht der Hauswirt und das Ministerium läßt noch nichts von sich hören.
Die Kaufmanns fühlen sich irgendwie verlassen. Die Freunde sind zum größten Teil in Leningrad geblieben. Bis vor wenigen Monaten fühlten sie sich als Russen. Doch eines Tages kam Burja weinend aus der Leningrader Schule nach Hause und erzählte, daß Kinder aus seiner Klasse ihm „Saujud" nachgerufen hätten. Lev wollte sofort auswandern, seine Frau hingegen wollte nur schwer auf ihr geliebtes Leningrad verzichten. Doch als sie bei einem Disput mit einer Nachbarin eine antisemitische Anspielung heraushörte, ließ auch sie sich von ihrem Mann überreden.
Bis zum Sechstagekrieg 1967 versuchten sich die zwei bis drei Millionen Juden - ihre genaue Zahl kennt keiner - in der Sowjetunion zu integrieren. Doch dieser Krieg und der drauffolgende Jom Kip-pur-Krieg (1973) erweckten erneut das nach den diversen Verfolgungen eingeschlafene jüdische Bewußtsein. Dieselben Juden, die bis dahin Angst hatten, Briefe an ihre Verwandten im Ausland zu schreiben, baten diese um ihre Mithilfe, damit sie im Rahmen der Familienvereinigung nach Israel auswandern könnten. Obwohl die Sowjetunion keine diplomatischen Beziehungen mit Israel unterhielt, erlaubte sie eine beschränkte Auswanderung, die etwa 220.000 Personen im Laufe der siebziger Jahre nach Israel brachte.
Mit dieser Einwanderungswelle nach Israel versiegte jedoch der große Strom der nationalbewußten Juden. Die Mehrheit der Sowjetjuden, die schon in der dritten und vierten Generation nach der Revolution geboren wurden, hatte nur wenig für das Judentum übrig. Sie sind weder nationalbewußt noch
haben sie irgend eine religiöse Verbindung zum Judentum. Doch wenn es zum Auswandern irgendeine Möglichkeit gibt, so lassen sie diese nicht ungenutzt.
Die Sowjetjuden entdeckten, daß sie eigentlich politische Flüchtlinge sind, die das Sowjetregime verlassen wollen und deswegen als solche von den USA aufgenommen werden. Amerika, das Paradies des Kapitalismus, war schon immer der Traum der Sowjetbürger, wenn sie sich stundenlang in Reihen anstellen mußten, um ein Kilo Fleisch zu erwerben, Zucker, Brot und anderes. 180.000 Sowjetjuden gelangten auf diese Weise in die USA. Allerdings mußten sie feststellen, daß das Leben in Amerika auch nicht so rosig ist, wie sie es sich erträumt hatten. Viele Ärzte wurden dort zu Taxichauffeuren und viele Ingenieure zu Hilfsarbeitern, im besten Fall zu Technikern.
Dann kam Glasnost. Von den letzten Aus wanderungswellen gingen 90 Prozent in die USA (eine Minderheit davon in westeuropäische Länder) und nur zehn Prozent wählten Israel.
Glasnost gestattete Meinungsfreiheit - die alten antisemitischen Sentiments wurden in der UdSSR nun wieder salonfähig. Zu diesem Zeitpunkt konstatierten die amerikanischen Behörden, daß die Sowjetjuden frei auswandern dürfen und es sich daher nicht mehr um politische Flüchtlinge handle. Im Klartext: Die Tore Amerikas würden geschlossen.
In Israel nimmt man an, daß innerhalb der nächsten fünf Jahre 750.000, vielleicht noch mehr Sowjetjuden einwandern werden. Dabei kommt diese riesige Einwanderungswelle sehr ungelegen, da zur Zeit die Inflation hier im Ansteigen ist, die Zahl der Arbeitslosen - zwölf Prozent der Arbeitnehmer - sich vergrößert hatund mehr als 160.000 Personen umfaßt. Trotzdem will Israel nichts unversucht lassen, diese Einwanderer aufzunehmen, denn es geht hier um mehr als nur um Neueinwanderer. In den vergangenen Jahren haben die großen Einwanderungswellen immer eine Prosperität mit sich gebracht und ' die brach liegende Wirtschaft neu angekurbelt. Außerdem ist Israel der Zufluchtsort aller Juden und das Rückkehrergesetz besagt dies ausdrücklich.
Zur Zeit versucht die israelische Regierung, ihr Jahresbudget umzufunktionieren, damit sie von 27 Milliarden US-Dollars des gesamten Etats, zwei Milliarden für Ein wanderungseingliederung abzweigen kann. Fürs erste sollen 50.000 Neubauwohnungen entstehen. Israel hat sich nun an die Juden in Amerika und Europa gewandt, damit auch diese ihren Teil zur Ermöglichung der Aufnahme der Neueinwanderer beitragen.
Es fehlen Wohnungen und insbesondere Arbeitsplätze, um'die Tausenden aufzunehmen; denn zur Zeit kommen bereits zirka 5.000 Neueinwanderer pro Monat und man nimmt an, daß deren Zahl noch steigen wird.
Die israelische Bevölkerung, insbesondere die orientalische, war nicht immer von der Idee begeistert, daß Tausende Neueinwanderer kommen und ihre eigenen Probleme deswegen links liegen bleiben. Momentan gibt es viele Arbeitslose, die kaum ihr Dasein fristen können - Landwirte, die sich nicht ernähren können etwa. Das führte soweit, daß einer der Führer der orientalischen Juden, Jamin Swissa, ein Telegramm an Michail Gorbatschow schickte und ihn bat, die Sowjetjuden in ihrer Heimat zu belassen. Ein solcher Massenexodus kann auch das gesamte Straßenbild Israels verändern, in dem heute die orientalischen Juden über 60 Prozent der jüdischen Bevölkerung bilden und Israel einen levan-tinischen Anstrich geben.
Inzwischen wird mit Hilfe der hiesigen Presse eine Freiwilligen-Bewegung gezimmert, um den Neueinwanderern bei ihren ersten Schritten beizustehen.
Valerie Motin (37), Beruf Maschinenbauingenieur, Frau Marina Motin (32), Beruf Gynäkologin, Tochter Katja (sieben Jahre alt): Aufregender Moment der Familie: Der Flug mit der El-Al-Maschine, die nette Betreuung und die Hilfe fremder Leute. Angst: Keine Arbeit zu finden. Enttäuschung: Die schreckliche, zeitraubende Bürokratie.
„Wenn es hier wenigstens Anleitungsbücher auf Russisch gäbe, wie man im Supermarkt einkauft, sich bei der Krankenkasse einschreibt, im Autobus eine Fahrkarte kauft und vieles andere mehr, wäre uns schon geholfen", sagte Marina Motin. „Aber trotz allem sind wir glücklich, hier zu sein."
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