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Der 5. November 1978 könnte als entscheidendes Datum in die Geschichte der Innenpolitik der Zweiten Republik eingehen. Seit vorletztem Sonntag ist ein Bruch im Struk-turgefüge der österreichischen Gesellschaft sichtbar geworden.

Dabei war die Kernkraftfrage nur Anlaß, nicht wirkliche Ursache gewesen.

Jedenfalls: In den Parteien, in den Interessenvertretungen, in den konfessionellen Gruppen entstanden Bruchlinien, die bisher noch nie sichtbar geworden waren. Familien stritten sich am Mittagstisch, gute Freunde entzweiten sich nicht nur an der vordergründigen Frage, ob Zwentendorf in Betrieb gehen müsse oder nicht - sondern daran, ob unsere Wirtschaft ihren bisherigen Kurs fortsetzen solle oder Veränderungen, die mehr oder weniger tiefgreifend sein müßten, am Platze wären.

Seit dem 5. November ist klar geworden: Es gibt zwei große Gruppen in der politischen Öffentlichkeit, von denen die eine die gegenwärtige Wirtschaftsordnung als ausbauwürdiges, weiterzuführendes, richtiges und zu stärkendes Element ansieht; und die andere, die aus verschiedenen Motiven gravierende Fehlentwicklungen befürchtet, der heutigen Wirtschaft ihre humanistische Komponente abspricht und Veränderungen der ökonomischen Struktur für wichtig erachtet.

Es ist nicht zu übersehen, was sich in der Kampagne vor dem 5. November ereignete: da führten ein Spitzenfunktionär des Gewerkschaftsbundes zusammen mit dem Generalsekretär der Industriellenvereinigung eine Kampagne für das Wirtschaftswachstum, für die Vermehrung des Lebensstandards und für die Verringerung der Auslandsabhängigkeit. Gewerkschafter, Arbeiterkammerfunktionäre und Betriebsräte (aller politischen Richtungen) sprachen und argumentierten wie Industrielle, Generaldirektoren, Unternehmer.

Auf der anderen Seite war die Palette nicht weniger bunt. Funktionäre des rechten FPÖ-Flügels, ehemalige Nationalsozialisten und Hochkonservative befanden sich in der glei-

chen Linie wie Jungsozialistenchefs, studentische Trotzkisten und der Ex-Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“.

Aber was da in Österreich passiert ist, hat seine Parallelen in anderen westeuropäischen Staaten - wenngleich dort keine Volksabstimmung zu einer ähnlichen Transparenz geführt hat. (Die FURCHE wird darauf nächste Woche noch näher zurückkommen. D. Red.)

Auch in Schweden hat die Frage der Kernenergienutzung zu einer Solidarisierung der Gewerkschaften mit den (liberalen) Unternehmern geführt, während Fälldins Gruppierung

auch von linken Systemveränderern Unterstützung erhielt und erhält. Bemerkenswert ist auch, daß sich die Eurokommunisten sowohl in Frankreich wie in Italien durchaus für die Kernenergie (und für ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum) aussprachen: zusammen mit Unternehmern und den Wirtschaftsflügeln der Rechtsparteien.

Erst recht weist die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland deutliche Ähnlichkeiten auf. Seit den Landtagswahlen in Hamburg, Niedersachsen und Hessen sind „Grüne Listen“ im Vormarsch gegen die alten Parteien. Und auf ihnen stehen

ganz oben ehemalige CDU-Angehörige zusammen mit maoistischen Studentenführern von 1968 wie Daniel Cohn-Bendit und Genossen.

Umweltschutz ist derzeit mehr, als der konservative Wortgehalt ausdrückt - es ist der Sammelbegriff für die Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur geworden. Wie lange es bei der Kritik an der Wirtschaft bleibt -und wie bald auch eine Umgestaltung der Gesellschaft gefordert werden wird, wenn man die Dynamik des Wachstums nicht bremst, werden wahrscheinlich schon die nächsten Monate zeigen (wenn eine Verknappung des Erdöls Energiepreissteigerungen zur Folge haben wird).

Tatsache ist jedenfalls auch, daß in unseren hochentwickelten Wirtschaftsordnungen die alte Lohnfrage jedenfalls nicht mehr die anderen Probleme dominiert. Dreißig Jahre sozialer Friede und die Argumentation, daß „wir alle im gleichen Boot sitzen“, hat ihre Spuren deutlich hinterlassen. Eine Frontbegradigung der alten, aus dem 19. Jahrhundert stammenden erratisch scheinenden Blöcke ist unübersehbar. Anderseits haben Idealismus, Schwärmerei, allgemeines Unbehagen an den Nachteilen und Nachwirkungen einer alles erfassenden Industrialisierungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Angst vor einem zum Raubbau entarteten Bevölkerungswachstum ein neues Denken provoziert, das nach politischer Aktivierung drängt.

Ist es für die großen etablierten Parteien unvermeidlich, daß sich in ihnen eine Zerreißprobe abspielen wird? Können bürgerliche Großorganisationen den Konflikt zwischen den am weiteren Wachstum orientierten Interessen und den konservativen, auf Beschränkung und Bescheidung ausgerichteten Gruppen aushalten?

Anderseits ist nicht zu übersehen, daß auch die etablierte Linke der Stunde der Wahrheit entgegengeht. Kann sich der Syndikalismus und ein sozialpartnerschaftlicher Interessenausgleich mit einem maschinenstürmerischen Neo-Marxismus vertragen, der auf Zerstörung als taktisches Prinzip ausgerichtet ist?

Es wäre gut, würde man sich darauf vorbereiten, daß die neue Bewegung jetzt aber auch anderen Projekten entgegentreten wird: großen und kleineren Industrievorhaben, konventionellen Kraftwerksanlagen, Bebauungs- und Ansiedlungsmaß-nahmen.

Den Parteien, allen Parteien, steht Widerstand ins Haus - eine Opposition, die man nicht mehr mit dem herkömmlichen Instrumentarium bekämpfen kann. Und die, artikuliert sie sich politisch, alle Wählerstimmen kosten wird ...

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