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Der neue Heilige

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Der Heilige dieser Epoche — den wir uns freilich nicht einfach bestellen können wie einen neuen Bürgermeister, wie einen neuen Kanzler —, der Heilige unserer Zeit, der in Wahrheit Neue Mensch, wie könnte er aussehn?

Nun, er muß aussehn wie jeder tatsächlich Heilige: nicht bloß anders als seine Zeit; denn anders als ihre Zeit sind ja auch die Mitläufer, anders sind auch die Reaktionäre so wie auch die Utopisten. Er muß Negation sein, aber die konstruktive Negation seiner Zeit. Er muß äußerster Gegen-Satz, äußerstes Gegen-Bild seiner Epoche sein, wenn auch gleich als das reifste Produkt derselben: das eben so unerwünschte wie unvermeidliche Kind seiner Zeit: mit all deren Lastern geboren, in all diesen Lastern erzogen, sie übend und dennoch an ihnen leidend bis zu dem Grade, wo andre zugrunde gingen; alle Versuchungen dieser Zeit an sich selber erfahrend, ja selber erprobend, der Typus des schlechthin genialen Sünders, hundertprozentig Essenz des Zeitgeistes, aber dies alles in derart vollkommener Konsequenz, daß die Absurdität des allgemein Selbstverständlichen, eben des Zeitgeistes, offen zutage tritt, auf die Spitze getrieben, ins Gegenteil kippt und in Scherben fällt, vor denen wir andern dann kopfschüttelnd staunend uns schämen: dies also war unser Ideal? dies waren unsre heiligsten Güter?

Kurz, der Heilige ist die leibhaftige Darstellung einer Krisis plus Uberwindung derselben, in summa das exemplarisch vorweggenommene Resultat seiner Zeit. Und ist das, indem er das allgemeine Problem seiner Zeit nicht politisch zu lösen sich anheischig macht, sondern sichtbarlich in sich selber bereinigt. Was Dichter und Denker in Worten leisten, das leistet der Heilige mit seiner Existenz,

Das Problem dieser unserer Zeit ist das neue Heidentum, konkretisiert im Sozialismus, in dessen populärer Philosophie der Verantwortungslosigkeit: Schuld, und zwar grundsätzlich.

„notwendig" schuld, sind immer die anderen, nie einer selber; die anderen mögen nun sein das Milieu, die Gesellschaft, der Staat, oder etwas spezieller doch eben so nebelig vage der Kapitalismus, die Kirche, die Presse, die Bürokratie, oder scheinbar konkret die Eltern, die Lehrer, oder die Großgrundbesitzer, die Generäle, einmal die Pimpfe und einmal die Greise, einmal die Männer und einmal die Weiber, lauter Synonyma für „die Juden", wissenschaftlich verbrämt: die Verhältnisse, „deren Geschöpf er (der Mensen) sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag", weshalb man, weiter nach Marx im Vorwort zum „Kapital", den einzelnen als einen „Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen" so wenig „verantwortlich machen" kann für sich wie für die ihn kategorisierenden Verhältnisse selbst.

Also jeder ein Opfer der Verhältnisse, keiner mehr, ein Gestalter, und also Verächter, derselben. Und in der Tat: ein Opfer; insofern nämlich, als das Kreuz, das einer zu tragen hätte, schleunigst und ungeniert weitergereicht wird dem jeweils Nächsten: geradezu schon als ein Ritual, als das blutig und bitter ernste Gesellschafts-Spiel, in dem die sozialistische Sozialität und damit auch die sozialistische Sozietät sich erschöpft.

Der Heilige also, mit dessen Erscheinung dies alles sofort als ein Spuk sich verflüchtigen würde, ein Spuk so absurd, daß wir nicht einmal mehr uns schämen, uns höchstens noch schallend auslachen könnten dar-ob, dieser Heilige also, das kann nur der Mensch sein, der im genauesten wie im weitesten Wortsinn nun alles auf sich nimmt: alles, auch und gerade auch das, wofür er „nichts kann", was ihn „gar nichts angeht": ein Winkelried auf dem Feld der persönlichen Ehre.

Die Schuld, woran immer, wird er allein bei sich selber suchen, wird nichts und niemanden mehr verantwortlich machen außer sich selber: ein anderer ist ihm versehentlich auf die Zehen getreten, und er, er wird diesen andern dafür um Verzeihung bitten, daß er ihm großspurig seinen Fuß in den Weg gesetzt hat. Vom Winzigsten bis zum Riesigsten wird er nichts ändern, nichts retten wollen, doch immer und überall Zeugnis geben, Zeugnis dafür, daß Verantwortlichkeit etwas Menschenmögliches ist und das eigentlich Menschenwürdige, höchstes und teuerstes Menschenrecht, und deshalb auch Pflicht eines jeden Menschen.

Allein, wir können den Heiligen als den Menschen, der das Problem seiner Zeit so schmerzlich verinnerlicht, daß er sich dessen als Lösung desselben entäußern muß, wir können den Heiligen nicht uns zurechtkon-struieren, wir können ihn nicht herbeizwingen, nicht herbeibeten, aber wir können ihn vorbereiten. Ein Heiliger kommt ja nie aus dem Nichts, und wie er Essenz des Zeitgeistes ist, so ist er all das Gift seiner Zeit und auch all das Gegengift seiner Zeit, er ist Seuche und Serum. Und ob nun all diese Strömungen zu einem Bilde des Heils gerinnen, das scheint eine Frage der Sehnsucht nach Heil, des Bedürfnisses nach einer Heilung zu sein: der Heilige wäre somit die Verdichtung zahlloser Ansätze heiligmäßigen Lebens. Ihn vorzubereiten hieße demnach: ihm, wie man ansonsten dem Heiligen nachlebt, vorzuleben: zu leben so, als hätte er uns schon sein Beispiel gegeben.

Wenn wir, in all unserem Knirpstum, in all unserer Kleinlichkeit, dennoch versuchten, Verantwortlichkeit über jedwede Kompetenz hinaus zu riskieren, also die heutige Relation zwischen diesen Begriffen glatt umzukehren, wenn wir, jeder in seinen kleinen und kleinsten Kreisen, den Heiligen gleichsam ausprobierten, weiß Gott, wir schüfen vielleicht das Klima, in dem er gediehe: er kommt, wenn er überhaupt kommt, nicht bloß buchstäblich, sondern leibhaftig aus unserer Mitte.

Dann, übrigens, hätten wir erst das Recht, eines anderen Menschen Schuld an konkretem Übel zu konstatieren; und in dem Bewußtsein unserer Mitschuld an allem und jedem sogar auch die Pflicht, den konkret hier Schuldigen zu verurteilen.

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