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Der Onkel aus Grönland

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Immer wenn Feier-, Geburtsoder sonstweiche verordneten Tage allgemeiner Fröhlichkeit nahen, entsteht die peinliche Frage: Wie entgehen? Denn die angeborene Scheu und Höflichkeit, die unsereinen auszeichnet, wird gerne und ausgiebigst mißbraucht. Im Normalfall ist unsereiner ja viel zu feinfühlig, als daß er — seinen Gefühlen folgend — sagen würde: „Interessiert mich nicht“ oder „Mir liegt noch der grauenhafte Schweinsbraten vom letzten Mal im Magen“. Auch ein klares „Mich seht ihr nie wieder“ oder „Ich finde Familienfeiern abscheulich“ kommt unsereinem in seiner geradezu angeborenen Zurückhaltung kaum über die Lippen, und wenn, würde jeder es für einen Scherz halten, der nur deshalb so müde ist, weil man selbst nicht gut geschlafen hat. Was hat

also ein aufrechter Charakter für Möglichkeiten, den diversen Feiern zu entgehen?

Nun, prinzipiell unterscheiden wir zwei Arten von Ausflüchten: solche, mit denen wir ein einziges Mal entkommen wollen, und solche, die uns auf Dauer von allen Einladungslisten und Nachstellungen befreien sollen. Für erste- re genügen einfache, plausible Ausreden, die zwar vielleicht als solche erkennbar sind, aber beim Einladenden keine bösen Gedanken keimen lassen. Dazu zählen zum Beispiel Grippen im März (niemals im Juli, man könnte im Gänsehäufel gesehen werden!), Magenverstimmungen (aber nur, wenn man nicht zum Essen eingeladen wurde!) sowie Elternver- einsabende (Achtung: auch andere Eltern haben schulpflichtige Kinder, womöglich in derselben Schule.

Auch alle unmittelbar überprüfbaren Ausreden müssen vermieden werden, etwa: das U- Bahn-Netz ist zusammengebrochen, Stau auf der Süd-Ost-Tan- gente (gerade dann ist einmal keiner), die letzte Straßenbahn versäumt (welche Feier beginnt um Mitternacht?), die Hose nicht rechtzeitig aus der Wäscherei bekommen und kein Heizöl an den Tankstellen, weshalb Sie Ihre Kinder mit Ihrem Körper wärmen müssen. Letztere Ausrede tendiert ohnedies bereits in die zweite Gattung der unwiderruflichen Ausreden.

Auch sind alle Ausreden zu vermeiden, die Ihre eigene Intelligenz in Frage stellen würden. Also vermeiden Sie unbedingt: „Ich hab die Straße/das Haus/den Stock/die Tür nicht gefunden“, „Ich wußte nicht, daß ich an der Tür klingeln oder klopfen muß“, „Ich habe Deinen Namen vergessen“, „Ich habe mein Adreßbuch verloren“, „Ich weiß nicht, wie man Straßenbahn fährt“ und so weiter.

Sehr empfehlenswert sind alle Erklärungen, die erkennen lassen, daß man aus reiner Selbstlosigkeit und Nächstenliebe nicht gekommen ist: „Ich hatte Schnupfen und wollte Euch nicht anstecken“ und „Ich habe das Geld für die Geschenke lieber den Armen gespendet“. Aber übertreiben Sie nie Ihre Philanthropie: „Ich habe AIDS und wollte Dich nicht anstecken“ ist ebenso ungeeignet wie „Ich hab mein letztes Gewand

den Armen gegeben“. Ersteres ist eindeutig zu starker Tobak und könnte peinliche Krisen im Bekanntenkreis nach sich ziehen, zweiteres ist im YUPPIE-Zeital- ter ziemlich unglaubwürdig.

Ja, und danmgibt es noch jene Form der Ausrede, die eigentlich schon keine Ausrede mehr, sondern eine hochentwickelte Form des Schwindeins, seine philosophische Übertreibung sozusagen, ist.

Eine dieser geradezu genialen Ausreden habe ich diese Weihnachten geboren — anläßlich einer mit Grauen erwarteten Einladung, die mir seit Monaten den Schlaf raubte. Ich will nicht darauf eingehen, wer dieser Entsetzen verbreitende Einlader ist, gnädig sei der Name verschwiegen, auch wenn er selbst keine Gnade kennt: seine Feiern zeichnen sich durch mieses Essen, schlechte Sitzplätze, dumme Menschen (außer mir natürlich), fade Witze und noch fadere Weine aus. Doch all die vielen, hoff

nungsvollen Erben kommen alljährlich und lassen sich bereitwillig quälen. Ich aber hatte beschlossen, mein Erbteil zu verschleudern. Nie wieder wollte ich in diesem bejammernswerten Kreis einen meiner wenige Tage verplempern. Nie wieder wollte ich diesei versalzene, weichgekochte Zeug namens Abendessen hinunterwürgen, um danach mein Magendrücken mit billigstem Fusel in entsetzliches Sodbrennen zu verwandeln. Damit würde Schluß sein.

Mit geradezu satanischer Freude erwartete ich den gefürchteten Anruf, der in einer Einladung kulminieren würde. Und tatsächlich, es läutete, und die Dinge nahmen ihren Lauf.

Ich nahm die Einladung entgegen, legte Schmalz und Trauer in meine Stimme und säuselte: „Tut mir leid, tut mir echt leid. Aber ich kann heuer nicht, mein Onkel kommt, mein Onkel aus Grönland. Und er nimmt sein Iglu mit,1 das müssen wir auf dem Balkon aufstellen, damit es nicht zergeht.

Glaub mir, ich würd’ lieber zu Euch kommen, denn er bringt Fischstäbchen mit, Tonnen von selbstgefangenen Fischstäbchen, und die müssen wir alle essen, weil er will nix davon wieder in seine Heimat mitnehmen.“

Das andere Ende der Leitung verkündete das schönste Schweigen meines Lebens. Eine wunderbare Stille - nur untermalt von leisem Rauschen — drang an mein Ohr. Dann machte es „Klick“, und die Verbindung war kommentarlos abgebrochen.

Alles ist wunderbar gelaufen, nur ein Problem habe ich jetzt. Vorige Woche ist eine Einladung gekommen. Mit Flug- und Schiffskarte. Von meinem angeblichen Onkel aus Grönland. Und er könne mir mehrere Morgen Eises vererben und die reichsten Fischstäbchen-Fanggründe. Ob mir wohl jemand mit einer plausiblen, nicht allzu frechen Ausrede behilflich sein kann? Schließlich will ich nicht noch einmal ein Erbteil verspielen!

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