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Der Präsident, der sich nicht entscheiden kann...

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Die Entscheidung über die Produktion der Neutronenwaffe, aus der schließlich eine „Nichtentscheidung“ wurde, hat Präsident Carters Ansehen im In- und Ausland neuen schweren Schaden zugefügt. Sie hat, wie die „New York Times“ schreibt, „das westliche Bündnissystem belastet, in der Regierung selbst Spannungen hervorgerufen und Zweifel an der Fähigkeit des bürokratischen Apparates, Entscheidungen zu treffen, entstehen lassen.“ Schließlich sei die Entschlußkraft des Präsidenten, seine Fähigkeit zu administrieren und die westliche Allianz zu führen, in Frage gestellt.

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Die Entscheidung über die Produktion der Neutronenwaffe, aus der schließlich eine „Nichtentscheidung“ wurde, hat Präsident Carters Ansehen im In- und Ausland neuen schweren Schaden zugefügt. Sie hat, wie die „New York Times“ schreibt, „das westliche Bündnissystem belastet, in der Regierung selbst Spannungen hervorgerufen und Zweifel an der Fähigkeit des bürokratischen Apparates, Entscheidungen zu treffen, entstehen lassen.“ Schließlich sei die Entschlußkraft des Präsidenten, seine Fähigkeit zu administrieren und die westliche Allianz zu führen, in Frage gestellt.

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Es war für Carter sicher nicht leicht, sich für oder gegen die Produktion der Neutronenwaffe auszusprechen. Diese Entscheidung hing von der Auflösung so vieler Widersprüche ab, daß der Beschluß, sie auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben und von der Haltung der Sowjetunion abhängig zu machen, noch als die vernünftigste Lösung erscheint. Carters Prestige ist trotzdem angeschlagen, eben weil er eine „Nichtentscheidung“ traf, die seinen Mangel an Entschlußkraft kraß dokumentierte.

Zunächst haftete dieser Waffe von Haus aus etwas Sarkastisches und Widersprüchliches an. Sie wurde als eine Art „humane“ Atomwaffe dargestellt, die auf Grund ihrer verstärkten Strahlung aber limitierten Explosionskraft „nur Menschen“ töte, jedoch Städte und Gebäude verschone. Was nicht oder nur selten ausgesprochen wurde, ist die Tatsache, daß die Neutronenwaffe einen in seiner Wirkung örtlich limitierten Sprengkörper darstellt, mit dem die sowjetischen Panzerarmeen, die in erdrückender Übermacht an den Grenzen der NATO-Staaten postiert sind, aufgehalten werden könnten.

Die Linke in den westlichen Demokratien und die sowjetische Propaganda hatten mit der „kapitalistischen Bombe“ leichtes propagandistisches Spiel. Schließlich konnten auch die Befürchtungen jener Kreise geschürt werden, die meinten, die „humane Bombe“ könnte ohne viel Skrupel eingesetzt werden und schließlich den totalen Atomkrieg auslösen.

Carter hatte diese Bombe von seinen Vorgängern geerbt. Der Anfang ihrer Entwicklung reicht weit zurück. Daß die Propaganda gegen diese Waffe vor allem Carter treffen würde, war vorauszusehen und wohl auch geplant. Denn der Präsident war schon im Wahlkamp/ gegen die Verbreitung von Atomwaffen eingetreten, ja er hatte sich sogar zu dem Versprechen hinreißen lassen, er würde für die völlige Beseitigung solcher Waffen kämpfen.

Somit war Carters anfängliches Eintreten für den Bau der Neutronenwaffe wenig überzeugend. Als Chef der NATO konnte er sich zwar schwerlich gegen eine Waffe aussprechen, die mit einem Schlag ein gewaltiges Loch in der NATO-Verteidigung schließen würde. Innenpolitisch wurde sie jedoch als eine Waffe „für die Europäer“ heruntergespielt, um die Bedenken des auch in den USA starken „liberalen“ Lagers zu zerstreuen.

Carters Enthusiasmus wurde auch nicht geweckt, als sich herausstellte, daß die Europäer zunächst keine große Begeisterung für die Neutronenwaffe entwickelten. Die von Sozialdemokraten regierten wichtigsten Staaten innerhalb der NATO—England und die Deutsche Bundesrepublik - hatten selbst einen Kampf gegen linksradikale Strömungen auszufechten, die sich der „Neutronenbombe“ gleich propagandistisch angenommen hatten. Es dauerte daher eine gewisse Zeit, bevor Schmidt und Callaghan die Bombe auch innenpolitisch in den Griff bekamen und die öffentliche Meinung für eine Aufnahme der Waffe in die NATO-Arsenale gewinnen konnten.

In dieser Periode wurde zwischen Washington, Bonn und London eine Formel entwickelt, die für die Europäer innenpolitisch tragbar schien. Dieser Formel nach sollte die Produktion beginnen, aber die Lagerung in Europa 18 bis 24 Monate zurückgestellt werden. Inzwischen wollte man Moskau dazu bringen, entweder auf die als

gefährlich angesehene Mittelstrekken-Rakete SS 20 zu verzichten oder eine erhebliche Einschränkung ihrer konventionellen Überlegenheit in Kauf zu nehmen. Dieser Kompromiß sollte dann von der NATO am 20. März formell beschlossen werden.

Ob nun Carter von diesem Kompromiß nichts wußte, oder zu große Bedenken hinsichtlich des zweiten SALT-Abkommens hatte: jedenfalls wurde die NATO-Sitzung plötzlich abgesagt und der stellvertretende Außenminister Christopher mit der Botschaft nach London und Bonn geschickt, der Präsident wolle die Neutronenwaffe überhaupt fallen lassen!

Der Sturm der sich darauf erhob, wird in Washington noch lange in Erinnerung bleiben: Schmidt, in der amerikanischen Presse als tobend beschrieben, sandte sofort seinen Außenminister Genscher nach Washington. Hohe Militärs, denen bereits der B-l Bomber entzogen worden war und die immer wieder vor einer militärischen Uberflügelung durch die Sowjetunion warnten, liefen im Weißen Haus die Türen ein. Selbst der Kongreß, dem Carters „militärpolitische Manipulationen“ schon lange verdächtig waren, nahm offen gegen die Entscheidung Stellung, die an sich noch gar nicht gefallen, jedenfalls noch nicht publiziert

Unter diesem Druck hat sich Carter schließlich entschlossen, die Produktion zu verschieben (kein Termin!), die Trägerraketen jedoch für die Ausstattung mit der Neutronenwaffe vorzubereiten. Es soll vom Verhalten der Sowjetunion abhängen, ob schließlich überhaupt produziert wird oder nicht.

Man kann sich schwer vorstellen, daß die Sowjetunion sich von einer so „reduzierten“ Entschlossenheit beeindruckt zeigen wird. Vielmehr scheint diese „Nichtentscheidung“ schlimmer, als ein dezidiertes Nein. Die europäischen „Alliierten“, allen voran Bundeskanzler Schmidt, wurden in einer Weise desavouiert, die praktisch einer Wahlhilfe für die Opposition gleichkommt. Denn was ist leichter, als dem deutschen Wähler einzureden: „Du könntest heute im Schutz der

Neutronenwaffe ruhig schlafen, hätte Bundeskanzler Schmidt von Haus aus diese Waffe begrüßt und gefordert.“ Daß Carter schließlich die Europäer für seinen Beschluß verantwortlich machen wird, ergibt sich aus seinem innenpolitischen Dilemma von selbst.

Das schlimmste ist jedoch, daß Carters Fähigkeit und seine Persönlichkeit bei Freund und Feind so stark in Zweifel gestellt werden, daß einerseits eine konstruktive Zusammenarbeit erschwert wird, anderseits der Respekt vor einem resoluten Gegner schwindet. Die Konsequenzen daraus könnten für Carter gefährlich werden. Sehr gefährlich sogar ...

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