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Der Sauerstoff ist aufgebraucht

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Ein Amerikaner sagte einmal: Es gibt vier Arten von Ländern - Industriestaaten, Entwicklungsländer plus Japan (keine Rohstoffe, sehr reich) plus Argentinien (viele Rohstoffe, arm). Warum aber arm?

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Ein Amerikaner sagte einmal: Es gibt vier Arten von Ländern - Industriestaaten, Entwicklungsländer plus Japan (keine Rohstoffe, sehr reich) plus Argentinien (viele Rohstoffe, arm). Warum aber arm?

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Warum Argentinien mit der Fülle seiner natürlichen Reichtümer in eine krasse wirtschaftliche Notlage geraten konnte, ist eine Frage, die sich aufdrängt. „Sie zu beantworten, würde ich Stunden brauchen", erklärte Juan Alemann, Herausgeber des deutschsprachigen „Argentinischen Tagblattes" und vier Jahre lang Finanzminister, der FURCHE.

Sein Kurzerklärungsversuch: „Wir sind zwar ein quasi europäisches Land ohne indianische Körper, aber eine indianische Seele prägt uns und erklärt die große Irrationalität unseres Verhaltens."

Die Irrationalität des Verhaltens äußert sich nach Alemann in jahrzehntelanger Politik eines primitiven Nationalismus und Protektionismus, in Arbeitskämpfen, niedriger Produktivität und jetzt vor allem in gigantischer Inflation: 17 Prozent — pro Monat.

„Seit 50 Jahren haben wir uns auf keine Spielregeln mehr geeinigt, die alle Gruppen im Staat akzeptiert hätten; das hat zu viel Unstabilität geführt", versucht Enrique Garcia Vazquez, ein Oppositionspolitiker der Union Civi-ca Radical, dieselbe Frage zu beantworten.

Alle Gesprächspartner, auch regierungsnahe, geben aber heute zu, daß es so nicht weitergehen kann. Mit „so" ist ganz konkret das Militärregime gemeint, das mit dem Mälvinas/Falkland-De-bakel nicht nur militärisch, sondern auch moralisch abgewirtschaftet hat. „Der Sauerstoff des derzeitigen Regimes ist aufgebraucht", sagt Enrique Garcia Vazquez, der auf baldige Neuwahlen setzt.

Staatspräsident General i. R. Reynaldo Bignone hat solche auch in Aussicht gestellt — für 1984, aber manche erwarten sie schon früher. Die Militärs wollen das von ihnen produzierte Schlamassel an die von ihnen bisher verteufelten Politiker und Parteien loswerden.

Juan Alemann sieht natürlich auch Positives an der von ihm ja bis vor kurzem mitgetragenen Politik der letzten Jahre: „Die Verwaltung wurde in Ordnung gebracht, die von den Peronisten total verschlampten Steuern wieder eingetrieben, Infrastrukturen ausgebaut, drei Jahre lang zwölf Prozent des Bruttonationalpro-dukts investiert..."

Der „Bürgerradikale" Vazquez erzählt wieder lieber, was schiefgelaufen ist: „Falsche Wirtschaftsbereiche wurden gefördert, unnötige Luxusgüter importiert, 40 bis 45 Milliarden Dollar an Devisen flössen ins Ausland, öffentliche Gelder wurden vergeudet, nicht zuletzt für Militärausgaben ..."

Daß nun vorrangig die Inflation bekämpft werden müßte, wissen alle. Weitgehend besteht auch Ubereinstimmung darüber, daß eine Art nationaler Konsens („acuerdo") gesucht werden sollte, um jenes Maß an Gemeinsamkeit abzusichern, das eine Rückkehr zur Parteiendemokratie ermöglicht.

Darüber Verhandeln die Militärs derzeit mit den Parteien. Manche hoffen sogar auf das Wunder eines für alle akzeptablen Präsidentschaftskandidaten. Derzeit sind maßgebliche politische Kräfte auf der Rechten wie auf der Linken freilich noch total zerrüttet.

Krasser Egoismus, politischer machismo kennzeichnet Argentinien. Viele Unternehmer schlagen aus jeder Chance rücksichtslos Vorteile heraus, weil morgen schon der Rückschlag da sein kann. Die Gewerkschaften hielten es unter Perön nicht anders.

„Was wir dringend brauchten, wäre eine Sozialpartnerschaft ä la Österreich", sagen Kenner der Verhältnisse. Manche setzen auf die Kirche als Impulsgeberin, aber bei weitem nicht so viele wie etwa in Brasilien.

Argentinien hat eine eher liberale, laizistische Tradition, und außerdem war hier die Kirche länger als in anderen lateinamerikanischen Staaten in die Interessen der Mächtigen und Reichen mitverstrickt.

In jüngster Zeit hat freilich auch die argentinische Bischofskonferenz ihre Stimme zugunsten einer Respektierung der Menschenrechte erhoben und von der Regierung Auskunft über die „des-aparecidos" verlangt: Zwischen 6000 und 20.000 liegen die Schätzungen der Zahl jener, die zwischen 1975 und 1978 „verschwunden" sind. Erst jüngst hat man wieder Massengräber entdeckt.

Es gibt viele Spekulationen, doch kein offenes Wort. Ohne Mut zur ganzen Wahrheit aber kann es auch keine moralische Erneuerung geben, die dieses atemnehmend schöne, potentiell reiche, heimgesuchte Land jetzt braucht.

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