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Der Schandfleck, mit dem ich lebe

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Ein Leserbrief? Mehr als das. Ein persönliches Zeugnis und Bekenntnis zum Gedenken an 1938. Ein Beispiel ernsthafter Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

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Ein Leserbrief? Mehr als das. Ein persönliches Zeugnis und Bekenntnis zum Gedenken an 1938. Ein Beispiel ernsthafter Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

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Das Gedenken an 1938 wirft wieder bei vielen die Frage auf, ob es eine Kollektivschuld der Deutschen und Österreicher gibt oder nicht. Die Frage ist schon oft verneint worden - und doch rumort sie immer noch herum. Das erste Mal hörte ich diesen Ausdruck in der Kriegsgefangenschaft. Und da wurde mit überstürzender Bereitschaft die Frage nach einer Kollektivschuld verneint.

Ich bin Maturajahrgang 1938. Ich stand also beim Einmarsch Hitlers in Österreich in einem Alter, in dem man zwar die Geschik-ke eines Staates nicht beeinflussen, wohl aber bewußt beobachten kann.

Mit meinem Lehramtszeugnis bewarb ich mich um eine Lehrerstelle im „Altreich“ und kam nach Bremen, später nach Oberschlesien. Mein ganzes Interesse nahm der Lehrberuf in Anspruch. Ich hatte weder Neigung noch Gelegenheit, mich politisch zu betätigen.

Mit Freuden stürzte ich mich in die Aufgaben meines Berufes. Und ich wurde ein loyaler Staatsbeamter, das heißt: nicht ohne Kritik. Wie sonst wäre ich einmal wegen einer Äußerung zum Kreisverwalter vorgeladen worden? Ich grüßte die Klasse wie vorgeschrieben mit „Heil Hitler“ und hielt mich streng an den Lehrplan, der aus heutiger Sicht natürlich auch Korrekturen nötig gehabt hätte.

Ja, manchmal schien es mir sogar, stolz sein zu können, in einer Zeit des Umbruchs zu leben. Anfangs fand ich in Deutschland alles besser als bei uns, hatte zu tun, mit meinen Minderwertigkeitsgefühlen fertig zu werden.

In den Ferien 1942 wurde ich vorgeladen, als Chorist auf einer Konzerttournee durch Polen mitzumachen. Als wir eines Tages in Brody den Zug nach Lemberg nehmen wollten, sah ich auf der Straße vor dem Bahnhof eine etwa 100 Meter lange Menschenschlange angestellt, die ebenfalls nach Lemberg wollte. Ich glaubte, daß auch wir uns anstellen müßten, doch wie überrascht war ich, als für uns ein eigener Eingang da war, durch den wir problemlos durch die Sperre konnten. Und wie ich dann noch merkte, wie zusammengepfercht die Polen in den Waggons waren und wie wir einen bequemen Waggon mit der Aufschrift „Nur für Deutsche“ hatten, da schämte ich mich, Deutscher zu sein. Ich schämte mich, als Fremder der einheimischen Bevölkerung vorgezogen zu sein.

Ich frage mich: Warum schämte ich mich, da ich doch keine Schuld an diesem Zustand hatte? Woher also die Scham? Ich war sogar unterwegs, um der polnischen Bevölkerung durch unseren Gesang Freude zu bereiten. Wie paßte das zusammen?

Wenn ich heute in unseren Tagen höre, daß einer unserer Schisportler einen Bewerb gewonnen hat, dann freue ich mich, bin sogar ein wenig stolz, obwohl ich beim Schifahren immer eine Niete war. Oder: ich bin stolz, daß unser Europalia-Beitrag in Belgien ein so großer Erfolg war.

Warum freue ich mich? Warum bin ich stolz, daß Österreicher etwas Großes geleistet haben?

Meine Antwort: Ich freue mich und ich bin stolz, weil ich Bürger dieses Landes bin und zu dem Volk gehöre, das diese Anerkennung erfahren hat. Könnte man da nicht von einer Kollektivfreude, einem Kollektivstolz sprechen? Selbst habe ich aber keinen Anteil an der Leistung, trotzdem bin ich stolz.

Wenn ich mich an den guten Leistungen meiner Landsleute mitfreuen darf, wie kann ich mich dann von ihren verbrecherischen Taten dispensieren?

Als wir in der Kriegsgefangenschaft über den Lautsprecher von den Greueltaten erfuhren, die von den Deutschen angerichtet wurden, da schämte ich mich nicht mehr, nein, ich fühlte mich mitschuldig. Wir wurden von den Lastwagen heruntergepeitscht, litten nicht nur großen Hunger, sondern fühlten uns verhöhnt, wenn die Besatzungssoldaten vor unseren Augen das Schnitzel, das sie nicht mehr essen konnten, verbrannten. Ich nahm für mich diese Schikane an und sagte mir im stillen, ich möchte diese Leiden als Sühne hinnehmen: als meinen Sühneanteil an den unvorstellbaren Greueltaten der Deutschen, einfach, weil ich damals auch Deutscher war.

Ich will niemand eine Schuld, die er persönlich nicht auf sich geladen hat, anlasten, doch so einfach, wie es manchmal dargestellt wird, ist die Sache doch nicht: Der Schandfleck der Nazi-Zeit wird in den Geschichtsbüchern einmal als Schuld des Deutschen Volkes verzeichnet bleiben, und da ich damals zu diesem Land gehörte, habe ich Anteil an dieser Schuld. Freilich, es ist eine andere Qualität von Schuld, aber sie haftet an mir.

Der Autor, Jahrgang 1919, erst 1964 zum Priester geweiht, ist Pfarrer von Seyring bei Wien.

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