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Der Schock von 1918

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Die unmittelbaren Folgen der Niederlage im Ersten Weltkrieg waren in Österreich-Ungarn schon früher ersichtlich und wogen noch weit schwerer als in Deutschland: auf der einen Seite Besetzung von Grenzgebieten und Entwaffnung, auf der anderen Zerfall eines Reiches, das fast vierhundert Jahre bestanden hatte. In Deutschland stand das ganze Volk hinter der Reichsidee. In der habs-burgischen Monarchie haben gewiß viele, und durchaus nicht nur im Bereich des heutigen Österreich, die alte Staatsordnung mit derselben Intensität bejaht wie die Deutschen ihr Vaterland. Die Mehrheit der Bevölkerung, zumindest der nicht-deutschen nationalen Gruppen, stand aber der Monarchie schon fremd gegenüber.

In verschiedener Hinsicht bestand durchaus keine umfassende Analogie zwischen der Lage in der habsburgischen Monarchie und in Deutschland. Die Schockwirkung der Absetzung des deutschen Kaisers nach Holland hat in Deutschland eine Kompromißlösung hinsichtlich der Staatsform vereitelt und damit unzweifelhaft zur Radikalisierung des Nationalismus beigetragen. Letzten Endes hat diese Entwicklung dem Nationalsozialismus in die Hände gespielt. Die Auflösung der Habsburr germonarchie und ihre Folgeerscheinungen hatten hingegen mit der Persönlichkeit des letzten Monarchen nichts zu tun...

Auch hinsichtlich der Friedensverträge ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den deutschen und österreichischen Verhältnissen ersichtlich. Kann man in Deutschland von einer Schockwirkung der Härte der Friedensbedingungen sprechen? Kein Zweifel, seit dem Waffenstillstandsabkommen, das die Entwaffnung vorsah, mußte man auf Schlimmes gefaßt sein: Auch wenn man die deutsche Lage 1918/19 nicht mit der weit größeren Katastrophe von 1945 vergleichen kann, wird man den Fehler vermeiden müssen, sie als verhältnismäßig annehmbar hinzustellen, weil sie weniger Schümm war als die spätere. Man wird darum aber auch nicht schließen dürfen, sie sei objektiv katastrophal gewesen, weil sie von sehr vielen so empfunden wurde. Halten wir fest, daß die Einheit des Reiches selbst nicht in Frage stand.

Wenn man hier kaum von einer Schockwirkung sprechen kann, so wohl aber von einer Erschütterung des öffentlichen Bewußtseins im Hinblick auf die Zerstörung moralischer Werte. Dies bezieht sich insbe-sonders auf zwei Umstände: die subjektiv gesehen durchaus ehrliche Annahme, daß die Siegermächte den

Waffenstillstand auf Grund von Wilsons Vierzehn Punkten abgeschlo-ßen und Deutschland daher betrogen hätten und auf die Einschaltung der Kriegsschuld als Artikel 231 des Ver-sailler Vertrages.

Aus berechtigter Empörung gegen die erzwungene Annahme des Postulats, Deutschland und seine Verbündeten trügen die ausschließliche Schuld am Kriege, zog man nunmehr den Schluß, das Reich sei daran ganz unschuldig. Daraus aber folgte die weitere Annahme, daß mit dem Nachweis dieser Unschuld das Vertragssystem von Versailles zusammenbrechen würde. Derlei Illusionen bestanden kaum im Raum des habsburgischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten.

Was weiters Österreich-Ungarn betrifft, ist die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes hinsichtlich der Anschlußfrage zu nennen. Insofern sich aber die Wirkung der Anschlußideologie in den Jahren der Stabilisierung der Ersten Republik in

„Hier wurde die Tragödie des deutschen Falles zur Groteske “ _

den mittleren Zwanzigerjahren merklich abschwächte und in der Zweiten Republik einem einmütig bejahten gesunden Staatsgefühl Inn-sichtlich der österrichischen Souveränität wich, braucht auf diese Frage, deren Regelung in den Friedenverträgen zweifellos als Unbill empfunden wurde, nicht näher eingegangen zu werden.

Wichtig erscheint mir ein zweiter, in seinen Folgen höchst merkwürdiger Umstand: nämlich daß das heutige Österreich in einer vernunftwidrigen Konstruktion als Rechtsnachfolger der habsburgischen Monarchie - das hieß ihrer Passiven - erklärt wurde, und zwar auf Grund der Annahme, der Sechsmillionenstaat des neuen Österreich trage eine Verantwortung für das Verschulden der alten Monarchie, wie es die Sieger sahen. Hier wurde die Tragödie des deutschen Falles zur Groteske.

Ein Grund, weshalb der Zerfall der habsburgischen Monarchie selbst auf dem Boden des heutigen Österreich nicht die Wirkung hervorgerufen hat, die man von der Auflösung eines hunderte von Jahren bestehenden ehrwürdigen historischen Gebildes hätte erwarten können, betrifft das Nationalitätenproblem des multinationalen Reiches. Hier sei einmal versucht, die Politik auszuklammern.

Die Nationalitäten sind, als Staatsbürger betrachtet, in der Habsburgermonarchie zweifellos besser behandelt worden als in mehreren der Nachfolgestaaten; und in den Nachfolgestaaten, wiederum als Staatsbürger betrachtet, weit besser als im Ostmitteleuropa nach 1945. Das Nationalitätenproblem selbst aber hat die Monarchie eben so wenig gelöst wie die ostmitteleuropäische Staatenordnung der Zwischenkriegszeit und die vollauf totalitäre nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus der Vielfalt der Gründe für dieses Versagen sei hier nur einer herausgehoben, der kaum je im Schrifttum berührt wird: die geographische Lagerung der nationalen Gruppen.

Selbst wenn man von dem Problem der Querteilung von fünf nationalen Gruppen seit dem Ausgleich von 1867 zwischen Österreich und Ungarn ganz absieht, so befand sich die Mehrheit von sechs der elf in der Monarchie vertretenen Gruppen, insgesamt fast drei Fünftel der Bevölkerung, überhaupt außerhalb der österreichisch-ungarischen Reichsgrenzen. Die Gesamtzahl dieser sechs Gruppen (Deutsche, Italiener, Polen, Rumänen, Serben und Ukrainer) überstieg tatsächlich die Gesamtbevölkerung der Monarchie um mehr als das Dreifache.

Die innenpolitischen Schwierigkeiten, die aus dieser Sachlage entstanden, waren äußerst schwer zu lösen; die außenpolitischen waren schon im Zeitalter des Nationalismus im 19. Jahrhundert unlösbar. Man kann mit. viel Recht die Grenzziehung des Versailler Vertragssystems in Ostmitteleuropa kritisieren. Eine allgemein befriedigende Lösung war aber - schon wegen der bestehenden Gegensätze nicht nur zwischen Ost und West, sondern innerhalb Österreich-Ungarns selbst - nicht möglich. Und dasselbe gilt mit einigen Variationen für die Zwischenkriegszeit und in erhöhtem Maße für die Lage in Ostmitteleuropa seit 1945. Eine demokratische, anti-totalitäre Lösung wäre nur im Rahmen eines Europa denkbar, in dem die Grenzpflöcke überhaupt wegfielen, eine Möglichkeit, die sich derzeit nicht im entferntesten abzeichnet.

Die österreichische Bevölkerung der unmittelbaren Nachkriegszeit, wie die der anderen Nachfolgestaaten, hat vielleicht die Einzigartigkeit der multinationalen geographischen Mengenlage des Vielvölkerstaates nicht voll verstanden. Aber sie hatte zumindest ein gutes Gefühl dafür, daß die Lösungen der Zukunft nicht mehr in einer europaweiten Anwendung von an sich verdienstlichen Einzelreformen liegen konnten.

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