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Der schöne Schein

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Biedermeier, das war die Zeit, als Spucknäpfe ihre höchste architektonische und kostbarste Ausformung erfuhren, das war die Zeit, als die erste lebende Giraffe von Ägypten in die kaiserliche Menagerie nach Wien gebracht wurde, das war die Zeit, als Paare - Dienstmädchen und Hut-schenschleuderer gleich wie Hausbesitzer und Baronesse - bis zur Bewußtlosigkeit in den Himmel hineinwalzten, das war die Zeit, als die Welt des Kindes erstmals als eigene, künstlerisch darstellungswürdige empfunden wurde. Das war aber auch die Zeit, als sich die Dampfmaschine in ganz Europa durchsetzte, als die zunehmende Industrialisierung das Lohnniveau senkte, Arbeitslosigkeit und Kinderarbeit zum Alltagsbild gehörten, soziale Ungerechtigkeit brodelnd die Revolution vorbereitete.

Neigt man heute offiziell aus politischen Überlegungen dazu, die sozialen Mißstände der Zeit, wie Verarmung und Massenarbeitslosigkeit, Polizeistaat und Zensur, als das Positive überschattend zu betrachten, so lehren Kunstwerke und kunstgewerbliche Gegenstände als Indizien der Zeit eher das Gegenteil. Noblesse, Formvollendung und hohe Qualität gingen als Kriterien auch der breiten Bevölkerung in Fleisch und Blut über, Bildung, Kunstsinn, maßvolles Sich-Bescheiden, Glück der Häuslichkeit und der Familie waren Tugenden, nach denen viele strebten — Tugenden, die uns heute oft schmerzlich fehlen.

In der Ausstellung „Bürgersinn und Aufbegehren — Biedermeier und Vormärz in Wien 1815-1848“ im Wiener Künstlerhaus ist es bei aller Prachtfülle, Liebliehkeit, Feinheit, schlichter Schönheit und bei allem Raffinement, die die natürliche Beherrschung des menschlichen Maßes voraussetzen, dem Ausstellungsgestalter Boris Pedrecca in künstlerisch selbstbewußter, phantasievoller und zugleich überaus einfühlsamer Weise gelungen, die Revolution nicht als zwingend notwendige Folge und verdiente Strafe des Bürgers vor Augen zu führen. Allzusehr verführen Biedermeiers Idylle den Betrachter zu nostalgischer Wehmut.

Pedreccas postmodernes Design und seine geschickte Verwendung von Bajonetten und Kanonen für ein überdachtes Spalier, seine Anwendung unterschiedlich gestalteter Kojen zur Präsentation von Schmuck, Mode, Möbeln, Erotik-Guckkasten und anderem belegt eine formale und möglicherweise auch weltanschauliche Nähe zum Biedermeier.

Wer war nun dieser „Herr Biedermeier“, dessen Wohnstil auch für den Kaiser verbindlich war, wurde Kaiser Franz' I. Arbeitszimmer doch als „Stube des ersten Bürgers eines Reiches“ bezeichnet? Der zu seiner Zeit äußerst populäre Dichter Viktor von Scheffel veröffentlichte 1848 Gedichte über den Typus des unpolitischen, zurückgezogenen Bürgers unter den Namen „Bummelmeiers Klage“ und „Biedermanns Abendgemütlichkeit“. Diese beiden literarischen Figuren standen dann wohl Pate für den fiktiven Autor Gottlieb Biedermaier, eine Schöpfung des Heidelberger Medizinprofessors Adolf Kußmaul (1822-1902). Erstmals 1853 veröffentlichte die Phantasiegestalt des alten Schulmeisters Gottlieb Biedermaier „Gedichte in allerlei Humoren“.

Die Ausstellung gliedert sich nach einem skulpturalen Walzerwirbel an der Fassade des Hauses, in den riesige Zinnsoldaten vom Dach stürzen, in 19 Kapitel, die auf zwei Geschosse verteilt sind: „Der Wiener Kongreß“ und die „Ära Metternich“ zeigen den politisch-historischen Hintergrund; die Abteilungen „Musik“ und „Wiener Walzer“ zeigen sowohl originale Musikinstrumente wie Hammerflügel, Tafel- und Giraffenklavier wie auch Partituren Beethovens, Schuberts, Lanners und Strauß' und Bilder aus deren geselligem Leben.

Die bildende Kunst ist mit einer einmaligen Zusammenschau von Gemälden Ferdinand Georg Waldmüllers, Josef Danhausers. Thomas Enders, Friedrich Gauer-manns und anderen Größen bestens vertreten und wird den Motiven entsprechend dem Sittenbild und der Landschaftsmalerei zugeordnet. Die hohe Kunst der Aquarellmalerei wird durch Rudolf Alt, Peter Fendi und Albert Schindler—die beiden letzten mit unendlich süßen Kinderdarstellungen - meisterlich vorgeführt.

Eine großartige Sammlung von gläsernen „Freundschaftsbechern“ Anton Kothgassers, Wiener Porzellans, von Silbergerätschaft und Schmuck betört ganz besonders Auge und Herz der Besucherinnen. Hervorzuheben ist noch die Sammlung vornehmer Stühle; Kommode und Sekretär wurden allerdings stiefmütterlich behandelt.

Parallel dazu zeigt auch die Graphische Sammlung Albertina Zeichnungen und Aquarelle der Biedermeierzeit von höchster Qualität (bis 14. Februar 1988). Die Ausstellung im Wiener Künstlerhaus, zu der auch ein umfangreicher Katalog aufliegt, bleibt bis 12. Juni 1988 zu sehen.

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