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Der Schrei auf der Brücke

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Es fiel ihm nicht gleich auf, als er ins Zimmer kam. Alles schien wie immer. Der Tisch, die Sitzgär-nitur, das Bücherregal: alles an seinem Platz. Gerade wollte sich Peregrin ein Buch aus dem Regal holen, als er es bemerkte. Mit den Bildern war etwas nicht in Ordnung. Es war ihm deshalb nicht gleich aufgefallen, weil die Wände fast bis zum Plafond behängt waren mit Bildern. Alle möglichen Formate hingen da, die verschiedensten Rahmen grenzten die einzelnen Bilder von der Wand und voneinander ab. Bilder aus den unterschiedlichsten Perioden hingen nebeneinander, ohne System, so wie der Platz es zuließ. Es fanden sich außer den paar Bildern, die er von Künstlern bekommen hatte, welche er persönlich kannte, keine Originale darunter. Gute Kunstdrucke, stilgerecht gerahmt: mehr konnte Peregrin sich nicht leisten.

Mit einem dieser Bilder stimmte nun etwas nicht. Jetzt, als er eine

Veränderung bemerkt hatte, erkannte er auch sofort, was es war: ein Bild von Münch. Edvard Münch: Der Schrei.

Oft war er vor dem Bild gestanden, hatte sich darin vertieft, wie man sich nur in etwas vertiefen konnte, was einen selber betraf. Und dieses Bild hatte etwas mit ihm, Peregrin, zu tun. Es war sein Bild. Immer wieder war er in den roten Himmel eingetaucht; und er konnte nicht mehr unterscheiden, ob es noch der Himmel war oder schon das Meer. Nirgends ein Leuchtturm, auch keine Boje. Das Meer donnerte, der Sturm kreischte - alles ein Schrei ohne Echo, dafür von solcher Intensität, daß Peregrin körperlichen Schmerz empfand.

Peregrin hatte also die Änderung entdeckt. Dort, wo bisher die Figur mit den an den hohl wirkenden Kopf gelegten Händen gestanden war, den Mund weit aufgerissen, lief nun das Brückengeländer weiter, um erst wieder von den beiden Spaziergängern am linken Bildrand verdeckt zu werden.Gerade als Peregrins Staunen in eine Frage übergehen wollte, hörte er hinter sich eine Stimme, eine ihm unbekannte Stimme.„Du wunderst dich.“ Peregrin fuhr herum. „Du wunderst dich, mich nicht dort zu sehen, wo ich deiner Meinung nach sein sollte.“

Die Stimme gehörte der Figur, die eigentlich auf dem Bild ihren Platz hatte und nun in einem der Lehnstühle saß. Der Körper hatte die gleiche Fragezeichenform wie sonst auf dem Bild und setzte sich talarähnlich bekleidet fort, sodaß man keine Füße sehen konnte.

Peregrin drehte sich wieder dem Bild zu, aber der Schreiende war in der Tat verschwunden. Langsam wandte er sich wieder der Figur zu. Bevor er noch etwas sagen konnte, begann sie schon wieder zu reden:

„Wer gehört schon dorthin, wo die anderen glauben, daß man hinzugehören habe. Ich jedenfalls möchte nicht mehr dort bleiben, wo du mich haben willst.“

„Nicht ich habe dich dorthin gestellt. Münch ist es gewesen.“

Peregrin verteidigte sich. Er wußte nicht, was er mit der Situation anfangen sollte. Diese Unsicherheit ließ ihn zurückschauen auf das Bild. Vielleicht, hoffte er, war die Figur wieder auf ihrem Platz und er hatte sich alles nur eingebildet.

Er erschrak noch mehr. Er bemerkte, daß die beiden Figuren aus dem Hintergrund langsam auf ihn zukamen. Gemächlich schritten sie über die Brücke auf Peregrin zu. Er hatte bisher angenommen, sie gingen in die entgegengesetzte Richtung. Peregrin wollte davonlaufen, aber es ging ihm wie im Traum, er kam nicht von der Stelle. Er stand zwischen den Fronten und fühlte sich von beiden Seiten bedroht. Der Schreiende sah ihn aus den weit geöffneten Augen mit aufgerissenem Mund an und tonlos schien er noch lauter zu schreien, während die beiden Personen auf dem Bild immer näherkamen. Peregrin konnte ihre Schritte auf der Holzbrücke hören. Er selber stand jetzt auf dieser Brücke und fühlte die Schwingungen der Holzbretter; jeder Tritt ließ ihn erzittern. Noch einmal versuchte er es:

„Ich war es nicht. Nicht ich. Münch hat es so gewollt. Nicht ich!“

Die beiden Spaziergänger ließen sich davon nicht beirren. Die Figur, zu der sich Peregrin wieder gewandt hatte, war aus dem Lehnstuhl aufgestanden, die Hände an den Kopf gelegt, wie auf dem Bild und kam jetzt ebenfalls näher. Die Farben des Meeres, dunkel, bedrohlich, bemächtigten sich der Brücke, überschwemmten sie, ließen sie sinken. Die Farben des Wassers vermengten sich mit dem Rot des Himmels.Nicht mehr die Figur schrie, jetzt schrie Peregrin und die beiden Spaziergänger hängten sich links und rechts bei Peregrin ein, er mußte mit ihnen durch den Schreienden hindurch über die Brücke gehen. Die Brücke nahm kein Ende, die Farben wurden dichter. Peregrin schrie.

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