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Der Schutzengel

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Haben Sie die Stimme ihres Schutzengels schon einmal gehört? Betretenheit pflegt dieser Frage zu antworten, oder Achsel- zucken. Für uns alle ist in Kinder- zeiten der Engel selbstverständli- cher Begleiter gewesen, aber unter Erwachsenen kann man nur schwer darüber reden. Engel sind unbe- weisbare Wesen, unsichtbar und zudem oft ein Gegenstand fürch- terlicher künstlerischer Versuche.

So ist zwar unserem Verstand das Geheimnis der Atome klar gewor- den und die Beherrschung der Überschallgeschwindigkeit gelun- gen, aber von höheren Wesen wis- sen wir so wenig wie das Tier von uns; schon mit der Unendlichkeit vermögen wir nicht fertig zu wer- den. Wie sollten wir uns auch nur die Idee des Engels selbst klarma- chen können? Wir formen ihn nach unserem Bild, und da wir ihn er- schaffen haben, meinen wir auch zu wissen, was er uns zu sagen haben wird. Es kann nicht viel anders sein, als die Moraltheologie herausde- stilliert hat. Und weil wir seine Stimme zu kennen wähnen, dringt seine wahre Stimme nicht zu uns.

Leise ist seine Stimme das ist seine Trauer Er kann nur Gott laut loben Seine Tränen sind fast stumm Diesen Engel hört man schwer. Und eben deswegen soll hier aufge- schrieben werden, was einer, der seine Stimme gehört zu haben glaubt, in einer vertrauten Stunde berichtet hat. Die Stimme klang gar nicht so silbern-glockenrein, wie man sich's erträumt.

Es war eine heftige Ausein- andersetzung, nahe daran, in Tätlichkeiten überzugehen. Die Gegner warfen einander Injurien an den Kopf, rückten aufeinander los, ihre Nerven zitterten, sie waren zu allem bereit; ich möchte nicht untersuchen, ob nicht einer den an- dern am liebsten getötet hätte. Es sind die Augenblicke des Zorns, der äußersten Erregung, wo sich die Kampfnatur des Mannes aus Ur- zeiten wieder meldet. Aus nichti- gem Anlaß. Der Gegner scheint nichtswürdig, verabscheuungswür- dig, er fordert unerbittlich Gewalt. Beide haben sich weit vorgewagt, es gab kein Zurück mehr in diesem Augenblick des Außersichseins, wozu noch die Meinung der eigenen Überlegenheit tritt, die es als ein leichtes erscheinen läßt, den ver- haßten Gegner niederzuringen. Man mag auch sonst sanft und friedlie- bend sein, jetzt ist es vorbei.

Und in eben dieser Entscheidung für das Böse vernahm ich - darf ich sagen: hörte ich? Nein, es war keine Stimme, es war ein Wissen, eine über den Weg der gewohnten Stim- me hinweggehende Mitteilung - sagen wir also: vernahm ich nicht etwa einen gütigen Zuspruch oder eine Mahnung. Ich hätte sie in den Wind geschlagen. Es geschah auch kein Hinweis auf die Untat, die ich zu begehn bereit war, da ich die Hand gegen einen Menschen erhob, da ich diesem jedes Unheil an den Hals wünschte - nein, die Stimme des Engels, die unhörbare, leise, die ich mir nur sanft und trauervoll vorstellen kann, sie sagte einen höchst banalen Satz, den ich sofort über die Achseln blies. Was sagte sie?

Nichts als: „Es wird sehr schmer- zen." Genau das, was mir in meiner Erregung am gleichgültigsten war, was überhaupt keinen Einfluß auf meinen Entschluß haben konnte. Es wird sehr schmerzen. Eine Auf- forderung zur Feigheit, zum Nach- geben: das Unrühmlichste, was man sich nur denken kann. Das, genau das, rief mir die Stimme meines Engels zu.

Man könnte nun sagen, das war gar nicht mein Engel, das war meine eigene Angst. Dar- über ist natürlich schwer zu strei- ten. Ich kann als logische Erwide- rung nur sagen: ich war in diesem Augenblick ganz und gar überzeugt, meinem Gegner überlegen zu sein, ich wußte, daß ich ihn ohne Gefahr niederschlagen konnte. Weshalb also Angst?

Man könnte auch sagen, daß mir eben ein guter Geist eingab, zu bedenken, was völlig ausgeschlos- sen schien, daß der andere doch kräftiger sein könnte, als vermutet. Nun, nennen wir das meinetwegen „guter Geist". Ich selbst war's nicht, denn ich bin zwar keineswegs draufgängerisch, aber in Ernstfäl- len wußte ich doch immer noch meinen Mann zu stellen.

Nun, wie es weiterging? Ich kann nur sagen: wäre die un- hörbare und so deutliche Stimme „Es wird schmerzen" meine eigene gewesen, so hätte ich nicht gezö- gert. Sei's drum, hätte ich mir ge- dacht - wie wohl jeder erboste Mann - und das eben, das ist das andere an dieser Stimme gewesen, die so gar nicht fromm oder gütig oder mahnend zu mir sprach, sondern einfach kategorisch. Ich folgte ihr.

Ich unterließ es, meine Beleidi- gung zu rächen. Ich nahm es auf mich, belächelt zu werden, immer noch bereit, im nächsten Handum- drehen zuzuschlagen.

Aber es war vorbei. Der andere wagte keine Injurie mehr, der Fall war ohne Totschlag erledigt. Und nun sage mir einer, bitte, ob ich nicht die Stimme des Engels gehört habe, die unserer Logik entgegen- gesetzte, starke Stimme, die - viel- leicht - ein Unglück hintanhielt? „Es wird sehr schmerzen."

In tieferem Sinn konnte der ein- fache Satz verstanden werden - wenn man will. Sein Inhalt war es nicht, der einen seines Sieges Si- cheren, Besessenen, dem Teufel entriß, der ihn schon in den Fängen hielt.

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