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Der semi-konservative Weg

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Mit 1. September 1974 tritt das neue Schulunterrichtsgesetz in Kraft. Nicht zu Unrecht wird es — wie Minister Dr. Sinowatz erklärt — als „Schulverfassung“ zitiert, denn der Schulalltag wird durch die neuen Gesetzesbestimmungen wesentlich verändert. Hinter dem, was der Nationalrat am 6. Februar 1974 beschlossen hat, steht eine langjährige Auseinandersetzung von Experten verschiedener Fachrichtung und Überzeugungen. Es wäre Unrecht, das Unterrichtsgesetz als Machenschaft der Mächtigen abzutun. Die folgenden Bemerkungen wollen nur darlegen, worüber der Nationalrat nicht beschlossen hat, was vielmehr seinen Entschlüssen als Unbefragtes vorausgeht. Doch das Selbstverständliche von heute kann zur großen Frage von morgen werden. F.

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Mit 1. September 1974 tritt das neue Schulunterrichtsgesetz in Kraft. Nicht zu Unrecht wird es — wie Minister Dr. Sinowatz erklärt — als „Schulverfassung“ zitiert, denn der Schulalltag wird durch die neuen Gesetzesbestimmungen wesentlich verändert. Hinter dem, was der Nationalrat am 6. Februar 1974 beschlossen hat, steht eine langjährige Auseinandersetzung von Experten verschiedener Fachrichtung und Überzeugungen. Es wäre Unrecht, das Unterrichtsgesetz als Machenschaft der Mächtigen abzutun. Die folgenden Bemerkungen wollen nur darlegen, worüber der Nationalrat nicht beschlossen hat, was vielmehr seinen Entschlüssen als Unbefragtes vorausgeht. Doch das Selbstverständliche von heute kann zur großen Frage von morgen werden. F.

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1. DIENER ZWEIER HERREN. Die Schule soll zwei Herren dienen, der Gegenwart und der Zukunft. Einerseits soll sie die Gesellschaft, von der sie erhalten wird, reproduzieren, indem sie für die freiwerdenden Arbeitsstellen womöglich homogene Nachfolger heranbildet. Anderseits soll sie den schöpferischen Mut im Menschen erwecken, ja soweit steigern, daß eine tiefere Sicht auf die Natur, ein umfassenderes Bewußtsein im Individuum und eine gerechtere Gesellschaft verwirklicht werden kann. Zufolge der Evolution ist die Natur vor ähnliche Aufgaben gestellt. Sie löst deren Widersprüchlichkeit semikonservativ: Die Erinnerung des genetischen Informationsspeichers gibt zwar nichts preis, verleiht aber durch ihre Novellierungen dem Erbgut einen völlig neuen Aspekt. Jede neue Organisation bedeutet einen Abbruch der Vergangenheit.

2. DER „SCHULERHALTER“. Je nachdem, ob sich der Schulerhalter, als geschichtliche Zustandsgröße oder als Katalysator des gesellschaftlichen Wandels betrachtet, sieht er sein Schulideal entweder in einem Konservatorium, in einer Konservierungsanstalt oder in einem Experimentierfeld, wobei das schulische jedem anderen Experimentierfeld insofern überlegen ist, als sich Fehlschläge nicht sofort oder überhaupt nicht eindeutig nachweisbar auf die Wirtschaft auswirken.

3. DIE LERNSCHULE HEUTE. Sobald eine Gesellschaft, wie in der Sowjetunion, die Grundvoraussetzungen für ein vollkommenes Zusammenleben erreicht zu haben vermeint,

fordert sie eine Lernschule, wie sie bei uns im 19. Jahrhundert üblich war. Und weil der Mensch, dieses mutationsanfällige Wesen, immer Gefahr läuft, das soeben Gewonnene wieder einzubüßen, muß Zensur darüber wachen, daß liniengetreu reproduziert wird. Die Bildungsbereitschaft des sowjetischen Städters — und nur diesen vermag ich zu beur-

teilen — beweist, wie leistungsfähig diese Lernschule ist.

4. ENTLASTUNG VON DER REPRODUKTIONSAUFGABE. Im Westen will die Schulpolitik die Lehranstalten von der Reproduktionsaufgabe entlasten. Ein sokratisches Unterfangen! Was man Sokrates so übel nahm, war ja sein mit der Schafsgeduld des simplen Fragers getarnter Wolfswille, die reproduktive Pädagogik zu zerreißen. Trotzdem darf heute niemand den Nimbus dieses griechischen Soziologen und Demokratisierers der Schule für sich in Anspruch nehmen. Sokrates wußte zwar, daß er nichts wußte, aber eines wußte er haargenau: er wußte, was er wollte. Bei den modernen Sokratikern verhält es sich umgekehrt. Darüber hinaus gab Sokrates ein Beispiel für die Selbsterziehung. Seine Vernunft sperrt sich nicht gegen den Daimo-nion, den übervernünftigen Berichtiger. So wird Gott selbst in dieser sokratischen „Demokratie“ stimmberechtigt, um den Menschen von allen Schlacken seiner Triebnatur und Denkfaulheit zu läutern.

5. OH, DIESE DENKFAULHEIT! Ein Gehirn wie ein Fleckerlteppich aus Schulreminiszenzen: darin liegt die Gefahr der Lern- und Reproduktionsschule. Die Befehlsempfängerjugend, die heute im Osten millionenfach herangezogen wird, steht einer befehlsungewohnten Jugend im Westen gegenüber. Das Modell des Peloponnesischen Krieges, die Endtragödie von Sparta und Athen, wiederholt sie sich im parlamentarisch-apokalyptischen Ausmaß?

6. DIE AUTORITATIVE LERNSCHULE unterwirft die Jugend einer harten Selektion. Nur die schöpferischesten Menschen überstehen diese Kur, ohne ihre Eigenart einzubüßen. Falls sie aus ihr heil hervorgehen, haben sie allerdings den Vorteil, das Instrumentarium der Kultur virtuos zu beherrschen. (Beispiele? In

Hülle und Fülle von Vergil bis zu Jakob Burckhardt...)

7. HINWEG MIT DER SKLAVENMORAL DER BÜFFEL-, PAUKERUND LERNSCHULE! Die Herrenmoral des schöpferischen Spiels und der Eingebung soll an ihre Stelle treten! Diese Aufforderung Nietzsches wird heute in einer Form erfüllt, daß dem Propheten der Ewigen Wiederkehr schon längst die Lust an ihr vergangen wäre. Gewiß ebnet die kreative Jungherrenschule dem Uberbegabten, dem Wertwilligen und Wertsuchenden den Weg. Er entfaltet sich freier und rascher, holt dann — wenigstens zu einem hohen Prozentsatz — in Eigenverantwortlichkeit den Drill nach, den die Schule von ihm zu verlangen nicht mehr den Mut hat, und ohne den hoch koordinierte Leistungen des menschlichen Gehirns nicht zustande kommen können. Was aber geschieht mit den vielen, die keinen eigenen Wertwillen haben und nur das wollen, was ihnen die anderen vormachen: mit schnelleren Autos überholen, zum Zweck magischer Allüren schlau reden, Haare sammeln, und ohne irgend etwas zu wissen?

8. DIE UNRUHIGEN GEISTER. Zweifellos wird durch die Freigabe von Kräften, die bislang in der Reproduktion des Kulturguts gebunden waren, die Anzahl der unruhigen Geister erhöht. Unruhige Geister beschleunigen ihre Unruhe nur selten bis zur echten Arbeit. Sie lassen es daran genug sein, ihren Mangel an Geist auf diese Weise zu tarnen. Je mehr Freiheit, desto kleiner wird die Frustrationstoleranz. Je rascher sich ein Mensch frustriert fühlt, desto geringer ist der zumutbare Leistungsdruck. Wird er überschritten, so ist der Schüler überlastet. Sich anzuspannen und zu überlasten, sei es in der Askese, im sportlichen und geistigen Wettstreit oder in der Aufopferung, gehört zu den ältesten psy-chohygienischen Anweisungen, aber diese Therapie mundet der mündigen Menschheit nicht. Wer sich nicht belastet, kentert zufolge des geringen Tiefgangs.

9. WELCH HEIKLE AUFGABE, RICHTIG ZU BELASTEN, die Menge an Kulturstoff so zu dosieren, daß

die resorbierte Energie dem schöpferischen Talent zugute kommt und nicht — es gleichsam überdüngend — verbrennt. Die Wirklichkeit muß mit einer großen Kinderermäßigung verabreicht werden. Trotzdem soll sie bereits vollwertig sein, damit Denken und Wille die lebensgültigen Widerstände erfahren. Keine Spezies ist so reichhaltig an Abstufungen

wie der Mensch. Summarische Anweisungen sind daher unzutreffend. Letzterdings bedürfte jeder Jugendliche seines „Guru“, seines Leiters, der das ganze Leben dieser Dosierungsaufgabe weiht und im äußersten Fall — wenn dieser Auftrag nicht mehr rational zu bewerkstelligen ist — für seinen Schüler auch sogar in den Tod geht, wie dies Joseph Knecht im „Glasperlenspiel“ vorlebt. Die Folgerichtigkeit, mit der Hermann Hesse seine pädagogische Utopie zu Ende führt, macht uns zumindest bewußt, an welche Grenzwertaufgabe wir uns heranwagen.

10. DER KINDERKREUZZUG. Bei der jeztigen Kopfzahl in den Schulklassen wird wohl der „unruhige Geist“ und nicht der junge klösterliche Glasperlenspieler das pädagogische Haupterzeugnis bleiben müssen. An ihm scheint man höheren Orts Wohlgefallen zu finden. Nicht mehr der Arbeiter, der im abendlichen ansteigenden Fußbad brav sein Kreuzworträtsel löst, nein, der labilere Jugendliche, welcher seine Mengenlehrerätsel ungelöst in der Schultasche liegen läßt, ist auserkoren, in einer Art Kinderkreuzzug das Heilige Land der Zukunft zu erobern.

11. WARUM DIESER JUGENDKULT? Es gehört entweder zu den Ammenidyllen oder zur Schönheit venezianischer Altartafeln mit ihrer immer wiederkehrenden „Santa con-versatione“, sich Menschen verschiedener Altersstufen in freundlich kopfnickender Partnerschaft auszumalen. In außerchristlicher Wirklichkeit sind die Altersstufen niemals nivelliert worden. Am Giebel des Zeustempels in Olympia wird der Blutkampf der Generationen in Pe-lops Haus dargestellt, und Zeus schweigt, um keine Partei zu begünstigen.

12. HINTER DEN KULISSEN DES MAJORITÄTSPRINZIPS. Welche Widergefühle Kolbenheyers Wort von der „biologischen Mächtigkeit“ bei den Kundigen der Jahre 33 bis 45 auslösen mag, es nützt nichts, auch wir Wähler müssen uns der biologisch mächtigeren Minderheit fügen. Es kommt nicht so sehr auf Urteilsfähigkeit und Erfahrung an, sondern auf das brillantere Bindegewebe, andernfalls müßte man jene Altersstufen gewichtiger bewerten, bei denen mehr Übung in intellektuellen Verfahren, vielleicht sogar ein wenig Verantwortungsgefühl vorausgesetzt werden darf.

13. BIOLOGISCHE MÄCHTIGKEIT. Demokratisch verstanden, bedeutet sie, daß eine jugendliche Wählerstimme mehr zählt als eine ältere, denn sie zählt für längere Zeit. Infolge des Produkts aus Stimme mal Lebenserwartungsjähre kommt von hinten herum ein biologischer Aspekt in die mechanisierte Wahldemokratie.

14. WAS WARTET AUF DIE SCHULE NACH EINEM ENDSIEG

DER BIOLOGISCH MÄCHTIGEREN? Zunächst muß das letzte pädagogische Reservat der Sklavenmoral liquidiert werden. Dem Mindestlohn entsprechend, wird dem Schüler kollektivvertraglich ein Mindesterfolg zugesichert. Das gewerkschaftliche Prinzip des Dienstverhältnisses wird in die Welt der Partnerschaft hineingetragen. Auf diese Weise — so hoffen wir — fallen alle Prüfungstorturen weg. Jeglicher Wettstreit wird vermindert oder überhaupt vermieden. Obwohl auch heute alle Wettbewerbenthobenen ihr Vergnügen am Wettbewerb der anderen in Boxringen, Eisarenen und Rennbahnen finden, soll das Leistungsprinzip als entfremdend verpönt und nur dem artistischen Vergnügungsfeld zugebilligt werden.

15. DIE FOLGEN DER JUNGHERRENMORAL werden bereits da und dort sichtbar. Wo sich der Student die Entschulung der hohen Schule am frühesten erwartet, ist an den Inskriptionsziffern der verschiedenen Fakultäten abzulesen. Zu den Naturwissenschaften und zur Mathematik führt aber keine Mautstraße für Herrenfahrer. Hält die Entwicklung an, so wird sich der forscherische, geistige und wirtschaftliche Schwerpunkt immer mehr nach Osten verlagern.

16. WIE SCHWER HABEN ES DOCH DIE ERWACHSENEN, „NEIN“ ZU SAGEN! In der Familie kreidet man dem Opapa seine Enkelpolitik des Alleshinnehmens und Gewährenlassens an. Auf öffentlicher Ebene wird etwa das Zigarettenrauchen in Schulen gestattet. Die Verantwortlichen wissen zwar, was auf sie zurollt: noch mehr Mist bei immer teurerem Reinigungspersonal. Sie wissen auch, daß bereits ein Wiener Nichtraucher das 3,4-Benzpyren, den kanzerogenen Stoff der Zigarette, unfreiwillig in seine Lungen pumpen muß und 20 Prozent der Raucher an Lungenkrebs sterben. Doch der öffentliche Opapa steht unter dem selben Druck wie der private. Falls er gegen die Diktatur des biologisch Mächtigeren aufmuckt, droht man ihm mit Liebesentzug: Der Opapa von der anderen Partei, der Vater der Schwiegertochter, könnte vorgezogen werden. Dies zu verhindern, sind ein paar tausend Tote kein zu hoher Preis, um so weniger als die schmerzliche „Frustration“ immer akut in der eigenen Amtszeit, der Krebstod der jungen Raucher völlig ungefährlich nach der eigenen Pensionierung eintritt: „Nach uns die Sintflut“,, spricht die jeweilige diensthabende Dubarry.

17. OB TYRANNIS VON „OBEN“ ODER „UNTEN“, zu beiden gehört es, Schatten und Licht als voneinan- / der unabhängige und ablösbare Größen zu fingieren. Zuletzt behält die Wirklichkeit recht und wird in die semikonservative Evolution einmünden, treu den Prinzipien, die seit Milliarden Jahren an uns wirksam sind. . . . .

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