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Digital In Arbeit

Der Senfpatzen am Tellerrand

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Der Hauptpreis des diesjährigen Wettbewerbs zur Literatur der Arbeits weit gebührt Ihnen und Ihrer Prosa, da gibt es für mich überhaupt keine Diskussion. Schon allein die Grundintention Ihres Textes, einen Tellerwäscher beim Tellerwaschen zu demonstrieren, hat etwas Faszinierendes und verdient Beachtung. Es muß nicht immer VOEST/Alpine sein. Ein Tellerwäscher unterhält sich beim Tellerwaschen mit dem Teller, großartig!

Es gelingt Ihnen, mit Hilfe eines einzigen Tellers eine Metaphorik aufzuspannen, die tatsächlich die ganze Hölle der Werktätigen beinhaltet. Das ist große Prosa, bedeutende Literatur. Mir fällt nichts Zeitgenössisches ein, das so authentisch wäre, das so kühn und unerschrocken direkt in die Innereien der Arbeitswelt greifen würde, wie es Ihre Erzählung uns hier vorführt. Sie beobachten ungemein scharf und genau. Ich gehe so weit zu behaupten, selbst Musil hätte den eingetrockneten Senfpatzen am Tellerrand nicht plastischer zu schildern verstanden. Nicht einmal Kafka hätte so kafkaesk schreiben können, wenn es darum geht, die Aussichtslosigkeitund deprimierende Unsinnigkeit anzuprangern, jenen eingetrockneten Senfpatzen vom Tellerrand zu kratzen in der Gewißheit, anderentags auf eben jenem mühselig gesäuberten Teller abermals einen wahrscheinlich noch viel eingetrockneteren und einen viel gewaltigeren Senfpatzen vorzufinden, und so fort ad infinitum, zumindest bis zum Lebensende, zumindest bis zur Pensionierung.

Es spricht für das ironische, nein für das sarkastische Element Ihrer Erzählkunst, daß Sie tatsächlich nachgerechnet haben, mit wievielen eingetrockneten Senfpatzen ein durchschnittlicher Tellerwäscher im Lauf einer durchschnittlichen Arbeitskarriere in der Tellerwäscherbranche konfrontiert wird, und es spricht für die Gewissenhaftigkeit und Präzision dieser Ihrer Erzählkunst, daß Sie nicht, wie wohl viele Ihrer Kollegen es getan hätten, abrunden und überschlagsmäßig eine Million, sondern schonungslos die nackte und brutale Wahrheit hinschreiben, die 1,215.628 Senfpatzen lautet. Und nicht ein Senfpatzen weniger. Ich glaube, in dieser ungeschminkten Art besteht die besondere Qualität Ihrer Prosa.

1,215.628 Senfpatzen, da läßt sich leicht denken, daß einen die Senfpatzen bis in die Träume hinein verfolgen. Sisiphus in der Küche! Senfpat-zenbeseitigungsuntertan! Großartig! Da ist nichts erfunden und gekünstelt, da wirkt alles echt und erlebt. Dieser junge Mann weiß, wovon er redet. Sie könnten durchaus schon persönlich einmal Teller abgewaschen haben.

Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar, denn durch Ihre Prosa habe ich auf freche, hautnah erzählte Art psychologische Details aus der Arbeitswelt erfahren, die ich wohl landläufig kenne, aber bisher - ich gebe es zu - nicht mit der notwendigen Intensität und Eindringlichkeit wahrgenommen habe. Wir alle müssen uns bei der Nase nehmen, wir alle machen uns mitschuldig. Wir alle setzen uns in einem fort mehr oder weniger gedankenlos in ein solches Restaurant und nehmen mit der allergrößten Selbstverständlichkeit hin, daß uns die Frankfurter Würstel auf einem frischgewaschenen, hygienisch sauberen Teller serviert werden. Wir verschwenden nicht einen Gedanken daran, wie schnell der Senf am Tellerrand eintrocknet und wie schwer der eingetrocknete Senf vom Tellerrand wieder zu entfernen ist. Die Ungeheuerlichkeit, mit der wir den Senf aus der Tube auf die Würstel quetschen, ist eine durch und durch widerwärtige und abstoßende.

Ich muß gestehen, wenn Sie mir diese anekdotische Zwischenbemerkung gestatten, daß ich ausgerechnet während der Lektüre Ihres Textes selber in einem solchen Restaurant gesessen bin und mir - wie der Zufall eben so spielt - ein Paar Frankfurter Würstel bestellt und völlig unsensibel und mit grauenhafter kapitalistischer Kaltschnäuzigkeit viel zu viel Senf auf den Tellerrand geklatscht habe.

Aber mir ist sozusagen der Senf im Hals steckengeblieben. Verzweifelt versuchte ich, den Teller mit einer Serviette abzuwischen, ich führte den Teller mit beiden Händen zum Gesicht und leckte vor allen Gästen gierig den Senf vom Rand, bis ich mir und den unbarmherzig weiterklebenden Senfpartikeln, der Erschöpfung nahe, eingestehen mußte: Es wird nicht ohne Geschirrspülmittel abgehen. Aber in diesem Moment habe ich mit einem Mal gewußt, daß der diesjährige Hauptpreis für Literatur aus der Arbeitswelt Ihnen, junger Mann, und niemand anderem gebührt.

Ihr Text offenbart freilich noch eine andere, tieferliegende Dimension: Wir denken in so einem Restaurant nicht nur nicht an die schwere Arbeit, wir denken auch nicht daran, mit wie unverschämt wenig Geld diese großen Leistungen abgegolten werden. Der Tellerwäscher, erzählt der Tellerwäscher dem Teller in Ihrem Text, denkt während des Tellerwaschens hauptsächlich an das Tellerwaschen, und wenn es hochkommt, denkt er daran, daß er in einem Tellerwäscherteufelskreis steckt, das heißt, daß er sich als Tellerwäscher nur eine Tellerwäscherexistenz leisten kann, und diese Tellerwäscherexistenz zwingt ihn wiederum zum Tellerwaschen, kein Ausbruch, kein Aufstieg, kein Vorwärtskommen, kein Quereinstieg in ein attraktiveres Dasein möglich.

Die Karriereleiter verläuft horizontal Richtung Pension, quereinsteigen könnte er bestenfalls bei den Möbelpackern. Schon Klofrau ist utopisch. Ihr Text ist ein eindrucksvoller Beleg für die häufig ignorierte oder bagatellisierte Tatsache, daß ein Tellerwä-

scher nicht unbedingt Millionär oder Präsident werden muß, sondern auch Tellerwäscher bleiben kann.

Während des Tellerwaschens denkt der Tellerwäscher an das Tellerwaschen und an die sozialen Konsequenzen des Tellerwaschens, nämlich, daß er nach der Arbeit sein ganzes Leben lang mit einem 2CV nach Hause fahren muß, während die, deren Teller er wäscht, mit ihrem 16V davonbrausen. Dieser soziale Konfliktstoff sollte uns zu denken geben, und daß ich darüber nachdenke, verdanke ich -ich muß es wiederholen - Ihnen. Mich hat die Unbarmherzigkeit dieser Wahrheit, die Sie scheinbar so leichtfertig niederschreiben, sehr berührt. Ich wollte, als ich das Lokal verließ - ob Sie mir das glauben oder nicht -, mit einem 2CV davonbrausen, und ich bin, nur weil ich leider keinen 2CV besitze, schließlich doch seufzend in meinen löVgestiegen.

Weil also der Tellerwäscher während des Tellerwaschens nur an solche sozialen und genaugenommen existentiellen Tellerwäscherunzukömm-lichkeiten denkt, denkt der Tellerwäscher während des Tellerwaschens gewöhnlich gar nicht. Der Tellerwäscher denkt etwa nicht, daß er mit seinem Teller den Direktor oder den Gewerkschaftsboß oder den Arbeiterkammerpräsidenten erschlagen könnte, weil er weiß, daß er, wenn er mit seinem Teller den Direktor oder den Gewerkschaftsboß oder den Arbeiterkammerpräsidenten erschlägt, auf jeden Fall seinen Arbeitsplatz verliert. (Davon abgesehen könnte der Arbeiterkammerpräsident in einem solchen Fall dem Preisträger der Literatur der Arbeitswelt nicht mehr den Preis der Arbeit überreichen. Was natürlich ein harter Schlag wäre. Für die Literatur.)

Hingegen weiß der Tellerwäscher nicht, was er, vom Tellerwaschen befreit, mit seiner Existenz anstellen sollte. Bei der Preisverleihung zuschauen ist ja auch kein Beruf. Irgendwie spürt der Tellerwäscher, daß mit der Tellerwäschertätigkeit gleichzeitig und sozusagen in einem Aufwaschen auch der gesamte Tellerwäscher wegrationalisiert wäre, erzählt Ihr Tellerwäscher beim Tellerwaschen dem Teller. Diese Stumpfsinnigkeit ist Ihnen großartig gelungen.

Ein süperber Kunstgriff und allein schon den Hauptpreis wert die Stelle, wo es so raffiniert-hinterfotzig heißt, daß der Tellerwäscher beim Tellerwaschen, anstatt ans Tellerwaschen oder gar nicht zu denken, lieber an Hegel denken würde, aber nicht an Hegel denken kann, weil der Tellerwäscher Hegel nicht kennt, weil man Hegel weder beim Tellerwaschen, noch beim vom Tellerwaschen gezeichneten Apres-Tellerwaschen kennenlernen kann. Weil letzten Endes sogar Hegel von sich aus nicht das geringste dazu tut, bei den Tellerwäschern bekannt zu werden.

Ich denke, eine der Qualitäten Ihrer Prosa - Proletenprosa, wenn ich es so formulieren darf - besteht aber genau darin, daß der Tellerwäscher während des Tellerwaschens nicht an Hegel denkt und in letzter Konsequenz auch gar nicht daran denkt, an Hegel zu denken, sondern Teller wäscht. Das ist glänzend beobachtet und schonungslos und ohne Larmoyanz notiert. Auch aus Marx schlägt er kein Kapital. Allenfalls aus Gaucho. Der Tellerwäscher denkt weder an Hegel, noch an Marx, noch an die Erschlagung des Arbeiterkammerpräsidenten. Er hört keine Signale. In der Schule hat er sowohl bei der Mehrwerttheorie, als auch bei der Akkumulationstheorie als auch bei der Verelendungstheorie als auch bei der Katastrophentheorie geschlafen. Am allerwenigsten käme der Tellerwäscher auf die wahnwitzige Idee, sich am PREIS DER ARBEIT zu beteiligen, das ist das wahrhaft Meisterliche an der Geschichte.

Ich sehe, und damit komme ich zum Schluß meiner Ausführungen, in Ihrer Erzählung nicht nur eine ungeheure moralische Ohrfeige für die Gesellschaft im allgemeinen, sondern auch für eine Kaste der Intellektuellen dieses 20. Jahrhunderts im speziellen, die keinerlei Schweiß mehr produziert, keinen Finger rührt, jeglichen Kontakt zur Basis verloren hat, aber trotzdem ungeniert zu allem und jedem - ich muß es hier so drastisch formulieren - ihren Senf gibt. Dieses Dilemma wurde übrigens auch in 99 Prozent der eingereichten Beiträge -sogenannten Arbeiten - des diesj ährigen Preises der Arbeit auf erschütternde Art und Weise manifest: Nicht nur, daß ich in 99 Prozent der Arbeiten keine Analphabetin in der Textil-fabrik, keinen lungenkrebskranken Hochofenarbeiter, keinen blödsinnig gewordenen Zooputzer, keinen irrtümlich von der Eisenbahn überfahrenen Eisenbahner, keinen vom Kürschnermeister blutiggeprügelten Kürschnerlehrling, keinen im Keller versteckten Sklaven vom Balkan, keinen einarmigen Holzfäller, kein Fließbandopfer, keine vorgesetztenphallusumzingelte Sekretärin, keinen selbstmordgefährdeten Sargtischler und keinen einzigen verwitweten, querschnittsgelähmten Hochgebirgsbauern mit 27 querschnittsgelähmten Kindern gefunden habe, nicht nur, daß mir in den Texten Kindergärtnerinnen, Journalisten, Lehrer, Wissenschaftler und als Gipfel der Unverfrorenheit sogar Dichter und Denker als arbeitende Menschen untergejubelt wurden, nein, ich mußte zum Thema Arbeit und Arbeitskatastrophe elendslange, blutleere Abhandlungen, Traktate und Theorien, sozusagen einen ganzen Haufen Hegel lesen. Ein Teilnehmer etwa hat allen Ernstes geschrieben: „Jetzt besteht die Arbeit nicht so sehr darin, das Individuum aus der unmittelbaren Weise zu reinigen und es zur gedachten und denkenden Substanz zu machen, als vielmehr in dem Entgegengesetzten, durch das Aufheben der festen, bestimmten Gedanken das Allgemeine zu verwirklichen und zu begeistern." Wissen Sie, da ist mir ein profunder Senfpatzen einfach lieber.

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