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Der Spiegelsaal und die Computer

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Wir sind alle Sklaven verschiedener Worte - wie die des Wortes Sicherheit. Wie es damit heute bestellt ist, zeigt die US-Publikation „Risiko und andere Schimpfworte“.

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Wir sind alle Sklaven verschiedener Worte - wie die des Wortes Sicherheit. Wie es damit heute bestellt ist, zeigt die US-Publikation „Risiko und andere Schimpfworte“.

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Amerikanische Wirtschaftsführer, die Bücher über gesellschaftliche und wirtschaftliche Themen schreiben, wirken in ihren Ausführungen oft seicht und befassen sich entweder mit spezialisierten Sachgebieten,oder zumindest weist die Thematik eine begrenzte spektrale Breite auf. Nicht so bei Walter Wriston: Walter B. Wriston war 17 Jahre lang, von 1967 bis 1984, Generaldirektor der Citi-Corporation. Dank seines Ehrgeizes, seiner Ausdauer und seines Weitblicks wurde die Citi-corp unter seiner Führung eines der wichtigsten privaten Kreditinstitute der Welt.

Das vorliegende Buch umfaßt 18 Vorträge, die er im Laufe von vielen Jahren gehalten hat. Er faßt sie in vier Kapitel zusammen:

• der einzelne und die Gesellschaft;

• die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Regierung;

• Beobachtungen vom Dachboden der Welt (Gedanken über die Weltwirtschaft) und

• Risiko.

Seine Ausführungen sind bunt und lebendig, vielseitig und geistreich. Sie stützen sich viel stärker auf Beispiele und Zitate als auf Analysen und statistische Daten. Unter den vielen Zitaten finden sich solche von Buddha, John Stuart Mill, Spinoza, Adam Smith, Machiavelli, Friedrich von Hayek und Milton Friedman, um nur einige zu nennen. Diese Zitate stellen nicht nur die ungewöhnliche Belesenheit des Autors unter Beweis, sie beleuchten auch Probleme von besonderer Aktualität.

Wie aus den Namen leicht zu schließen ist, schreibt der Autor im Geiste der Liberalen des vorigen Jahrhunderts, die die Ansicht vertraten, daß eine freie Marktwirtschaft, die Eigenverantwortung des einzelnen und eine enge Begrenzung der Macht der Regierenden die besten Garanten für ein Maximum an persönlicher Freiheit und für den größtmöglichen Wohlstand sind.

Sein profundes historisches Wissen ermöglicht es dem Autor, die Flut schlechter Nachrichten, das Ausmaß von Krisen und die Ankündigung von Katastrophen zu relativieren. „Die eigentliche Neuigkeit in der amerikanischen Gesellschaft“, schreibt Wriston wörtlich, „ist nicht etwa, daß sich unsere Schwierigkeiten vervielfacht haben, sondern daß wir gegenüber diesen Problemen in einem Maße sensibilisiert sind, wie dies noch niemals in der langen Geschichte der Menschheit der

Fall war.“ Daß wir uns mit der Armut nicht abfinden wollen, ist gut. Auch, daß wir hinsichtlich der Reduzierung der Armut enorme Fortschritte gemacht haben, meint Wriston. Er beklagte aber die Tendenz, die Schuld für die Probleme der heutigen Gesellschaft dem „System“ zuzuschieben und von der Regierung Lösungen zu erwarten. „Ein stärker ausgebildetes Bewußtsein der persönlichen Verantwortung des einzelnen Staatsbürgers und das Begreifen der begrenzten Möglichkeiten der Regierung wären bedeutend nützlicher als ein weiteres Regierungs-Programm.“

Besonderes Augenmerk wendet Wriston der heutzutage modernen Forderung zu, die Vereinigten Staaten brauchten ein System staatlicher Industrie-Förderung (national industrial policy), um ihre angeschlagene Position auf dem Weltmarkt zu verbessern. Dieser Standpunkt sei in hohem Maße gefährlich und hätte unausbleiblich eine wirtschaftliche Katastrophe zur Folge, denn er würde an die Stelle des Wettbewerbes die politische Gunst setzen.

„Es gilt, heute ganz klar zum Ausdruck zu bringen, daß die Problemlösungen, die Ludwig XIV. und sein Minister Colbert entwickelt haben, auch mit Hilfe eines Computers nicht anders aussehen als im Spiegelsaal von Versailles.“

Daß der Autor einen großen

Teil seines Buches der Erörterung von Inflation, Steuern und Bankangelegenheiten widmet, versteht sich sozusagen von selbst. Sein Standpunkt in diesen Fragen ist kaum anders zu erwarten: für die Inflation macht er die Regierung verantwortlich, die zu viel Geld in Umlauf bringt, um so ihre Verschwendung zu finanzieren. Das Steuersystem ist viel zu kompliziert und die Steuerlast bei den niedrigen Einkommen zu hoch. Im Kreditbereich bedarf es der Beseitigung antiquierter Bestimmungen, die den freien Wettbewerb behindern. Im Kapitel, das mit „Risiko“ betitelt ist, stellt Wriston einen bemerkenswerten direkten Zusammenhang zwischen der Einstellung gegenüber dem Risiko und der Aufrechterhaltung einer freien Gesellschaft her: „Der immer größere Durst für eine unmöglich zu erlangende physische und ökonomische Sicherheit hat

Auswirkungen darauf, ob es möglich sein wird, uns unsere geistige und politische Freiheit zu bewahren.“ Und dann wird er noch deutlicher und faßt sein politisches Credo in einem Schlüsselsatz zusammen: „Unsere Unabhängigkeits-Erklärung und unsere Verfassung garantieren uns kein risikofreies Leben, sondern individuelle Freiheit und Demokratie.“

Obwohl das Buch aus amerikanischer Sicht geschrieben ist, hat es dem europäischen Leser viel zu bieten. Es ist eine Absage an die Zwangsbeglückung durch den Staat und zeigt, daß es über das hinweg, was man den Zeitgeist nennen könnte, so etwas gibt wie ewig gültige Wahrheiten. Eine dieser Wahrheiten besagt, daß es Sicherheit, so sehr sich auch die Menschen nach ihr sehnen mögen, in dieser Welt niemals gab und auch nicht geben wird. Eine Regierung, die ihren Staatsbürgern Sicherheit verspricht, ist nicht seriös, denn sie muß wissen, daß sie dieses Versprechen nicht halten kann. Und Bürger, die glauben, daß es ein Leben ohne Risiko gibt, sind naiv. Wie sagte doch Joseph Roth: „Leben ist immer lebensgefährlich!“

Der Autor ist Leiter der Repräsentanz der Genossenschaftlichen Zentralbank AG in New York. Buchbesprechungen von ihm erschienen bereits in den Nummern 12 und 14/ 1986.

„Risk and Other Four-Letter Words“ („Risiko und andere Schimpfworte“), erschienen 1986 im Verlag Harper & Row, New York, 243 Seiten, umgerechnet dzt. 400 Schilling. ...

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