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Der Staat, der verhungert

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Wer in Bangladesch sagt, „es kann nicht noch ärger werden“, gilt als Narr. Wer in Bangladesch sagt, „die Grenzen des Ertragbaren sind überschritten“, hat die vergangenen Jahre vergessen. Seit der Flut von 1970 ist es mit jedem Jahr ärger geworden. Und in jedem neuen Jahr wurde, was im vergangenen als Grenze des Ertragbaren erschien, weit überschritten. Der Nullpunkt, der für den einzelnen so absolute Gültigkeit hat, scheint für ein Volk ungültig zu sein. Der Flut von 1970 folgten 1971 Massaker und Krieg. Der Befreiung folgte Totalkorruption der Regierung, wachsender Hunger aus progressiver Lähmung. 1974 ist es wieder die Flut; doch die Flut konnte nur noch verkommene Reisfelder zerstören, durchlöcherte Dämme sprengen. Mit indischer Hilfe hat 1971 der Ministerpräsident Mujibur die Pakistaner besiegt. Nach indischem Muster will er heute der Krise beikommen.

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Wer in Bangladesch sagt, „es kann nicht noch ärger werden“, gilt als Narr. Wer in Bangladesch sagt, „die Grenzen des Ertragbaren sind überschritten“, hat die vergangenen Jahre vergessen. Seit der Flut von 1970 ist es mit jedem Jahr ärger geworden. Und in jedem neuen Jahr wurde, was im vergangenen als Grenze des Ertragbaren erschien, weit überschritten. Der Nullpunkt, der für den einzelnen so absolute Gültigkeit hat, scheint für ein Volk ungültig zu sein. Der Flut von 1970 folgten 1971 Massaker und Krieg. Der Befreiung folgte Totalkorruption der Regierung, wachsender Hunger aus progressiver Lähmung. 1974 ist es wieder die Flut; doch die Flut konnte nur noch verkommene Reisfelder zerstören, durchlöcherte Dämme sprengen. Mit indischer Hilfe hat 1971 der Ministerpräsident Mujibur die Pakistaner besiegt. Nach indischem Muster will er heute der Krise beikommen.

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Im Moment der akuten Hungersnot trat er die außenpolitische Offensive an. Im Nahen Osten wurde der Befreier von Ostbengalen ein feuriger Sprecher für die Befreiung der Palästinenser. In den Vereinten Nationen (die sein Land eben aufgenommen hatten) wurde er ein Führer der Boykottbewegung gegen die (weißen) Rassisten in Afrika. Und bei Kissingers Besuch in Dacca verband der Ostbengalenführer seine Bereitwilligkeit, Hilfe und Investitionskapital aus den USA anzunehmen, mit der Überheblichkeit des Siegers gegenüber dem Freund des unterlegenen Pakistan.

Doch Bangladesch ist die Ausnahme unter den notleidenden Staaten der Region. Eine Gruppe wälzt die Schuld nicht auf den Westen ab und sucht die Schuldigen nicht im Westen. Selbst dem Unterdrücker der vergangenen Epoche, Pakistan, geben sie nicht die Schuld, und auch nicht dem Befreierstaat Indien, das jetzt vom Volk gehaßt und aller Verbrechen angekiagt wird. Der Anwalt Mohmud Ahmad hat vor sieben Jahren seinen politischen und persönlichen Freund vor dem pakistanischen Militärgericht verteidigt. Jetzt klagt er, Anwalt des Volkes, seinen Klienten an. Die Schuldigen sind in Bangladesch. Die Not war nicht zu verhindern. Aber daß sie zu einer Hungersnot im Ausmaß der Bengalennot von 1943 geworden ist, das liegt an der Identität von Regime und Korruption.,

In Bangladesch erkannte ich den Unterschied zwischen der indischen Nahrungsmittelkrise und der ost- bengalischen Hungersnot, zwischen dem Dahinsiecben an Unterernährung und dem Hunger als akuter Todesursache. Der Norden von Bangladesch ist abgeschnitten von allen Hilfslieferungen. Deren Inlandsbestand wird in den Städten aufgebraucht. Deren Auslandsbestand landet auf den Schwarzen Märkten in Indien, und vor allem in Burma. Enayetulla Khan, Redakteur einer Dacca-Zeitung, die er mit schwarzem Humor „Holiday“ nennt, ist nach Mohdud Ahmeds Ansicht ein Optimist. Enayetulla behauptet: Von sieben Einheiten, die als Hilfe aus dem Ausland kommen, landet eine in den Händen eines Bedürftigen, von sieben Decken ist es eine Decke, von sieben Dosen Milch ist es eine Dose.“

Im Norden zeigt es sich dann: Enayetulla ist ein Optimist. In die sem Distrikt Rangpur, in die Distriktstadt Rangpur, ist nichts gekommen, kommt nichts.

Nur Menschenmassen strömen in ständigem Fluß aus dem Distrikt in die Hauptstadt. Überall ln den Territorien der Not erwarten die Hungrigen von den Städten das Wunder des Überlebens. In den Städten kommt der Tod dann nicht aus dem Hunger allein, auch aus der Dichte, der Enge. „Warum die Menschen am Weg noch haltmachen, statt direkt auf den Friedhof zu ziehen“, fragt Mohmud Hussain aus dem Dorf Dajur. Und er führt mich auf den Friedhof. Deutlich kann man drei Sektoren unterscheiden. Der kleinere Sektor sind die Gräber aus der Zeit der Flut von 1970. Einen viel größeren Sektor bilden die Gräber der von pakistanischen Soldaten ermordeten Männer und der in den Selbstmord getriebenen Bengalenmädchen. Der größte Sektor aber sind die neuen Gräber, flache Steine, Kiesel.

Wie oft hat man in diesen verflossenen Dezennien Zahlen genannt, um Zahlen gefeilscht und geglaubt, mit der Anzahl der Opfer die Schwere des Verbrechens oder der Katastrophe erfassen zu können. Hier gibt es seit der Flut von 1970 keine Zählung mehr der Lebenden und der Toten: Doch das Gefeilsche zwischen Anklägern und Beklagten gibt es. Ein Dorf ist mehr als alle Zahlen: Im Dorf des Mohmud Hus- sain lebten einmal neun Familien. Das Dorf ist heute nur noch ein einziger Hof, der Hof des reichsten Bauern. Und der verkauft, wenn er kann, was er hat. Erschossen? Weg- gezogen? Verhuhgert? Begraben auf dem Friedhof von Rangpur?

Die Preise der Nahrungsmittel waren im Frühjahr im Distrikt noch unerschwinglich für die Landlosen. Aber der Böden hatte ‘keinen Marktwert. Wer sollte ihn kaufen? Mit den Folgen der Saatmisere und den Fluten sanken die Nahrungsmittelpreise, weil die Bauern nicht mehr genug für die Transporte auf die Schwarzen Märkte der Städte aufbringen konnten — und im Bezirk der Hunger groß, die Geldlosigkeit der Landlo’sen aber absolut war. Dann ging es den kleinen und den mittleren Bauern an den Kragen. Wo Naturkatastrophen sind, sammelt sich das Ungeziefer aus den Städten. Aus Dacca kamen in Heli- coptem, die internationale Hilfsorganisationen für den Transport von Hilfsgütem bestimmt hatten, die Aufkäufer aus Dakka und einige Männer aus Kalkutta. Die kauften für ihre Auftraggeber in Dacca um einen Bettel den Boden. Für sich selbst kauften sie, was von der Herbstemte noch einigermaßen heil auf den Feldern stand. Und die Männer aus Kalkutta besorgten sich ihr Schmuggelgut, das seit dem Pakistamertoben unter den Bengalenmädchen ständig in die Bordellviertel von Indien geschleust wird.

Außer dem Friedhof funktioniert nur noch das Landregdstrieramt. Vom Friedhof ging ich auf die Landregistratur. Dort standen in langen Schlangen — immer ein Ausgemergelter neben einem normal Ernährten — die alten und die neuen Landbesitzer, um den Besitzwechsel registrieren zu lassen: Mehr als 23.000

Landübertragungen von mehr als 100.000 Quadratmetern Grund in sechs Wochen von Flut und Hunger! Sind Flut und Hunger vorbei, wird Rangpur, was von der Stadt und vom Distrikt geblieben ist, den Reichen in Dacca gehören. Und in Dacca gibt es heute nur einen einzigen Weg zum Reichtum; der führt über die Politik.

Der Anwalt Mohdud Ahmed und sein Komitee erhoben die Anklage: die Hungersnot von 1974 ist fürchterlicher geworden, als es die Hungersnot von 1943 war; was britische Kriegstaktik gegen eine japanische Invasion Bengalens bewirkte, das bewirkt heute der Machthunger, die Gier der Politiker.

Die Regierung hat den Ankauf der vorhandenen Nahrung mit schwarzem Geld, die spekulative Hortung und den Schmuggel nach Indien toleriert.

Als die Unzulänglichkeit der heimischen Ernte für Schwarzmarkt, Schmuggel und Volksemährung erkennbar wurde, konzentrierte sie sich auf die Erwerbung von Hilfslieferungen von allen Seiten und auf das Ausspielen der einen Seite gegen die andere.

Als die Hilfslieferungen kamen, ließ die Regierung zu, daß der größere Teil davon den Weg der heimischen Ernte ging: Nahrungsmittel im Wert von 504 Millionen Dollar aus den USA, andere Hilfsgüter im Wert von 700 Millionen Dollar, Lieferungen aus 40 Staaten und von allen internationalen Hilfsorganisationen haben. Dacca zu einer Stadt der Multimillionäre gemacht, Bangladesch zu einem lebenden Leichnam.

Am 23. November ließ Sheik Mujibur Rahman durch Parlamentsbeschluß die parlamentarische Demokratie Bangladesch in eine Präsi- dentialdemokratie verwandeln. Zur selben Zeit wurde in Dacca bekannt, daß der Bengalendichter Fa- rukh Ahmed an Hunger gestorben sei. Farukh hat in den Monaten des pakistanischen Kriegsrechtes den ostbengalischen Freiheitskämpfern „Mukthi Bailini“ ihre Lieder gedichtet. Mujibur Rahman wurde nach der Befreiung „Vater des Vaterlandes“ und ist der souveräne Präsident. Farukh Ahmed blieb der Dichter der Revolution: und diese sammelt sich jetzt um das Komitee des Anwalts und im Untergrund.

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