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Der stets verpaßte Friede

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Genau vor 30 Jahren schloß sich der Ring um die deutschen Truppen in Stalingrad. Zehntausende starben an Entbehrungen und im Trommelfeuer der Roten Armee. Stalingrad wurde später immer wieder als Wende im Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Aber stimmt das wirklich? Neuere Geschichtsforschungen kommen — insbesondere im Hinblick auf den weiteren Kriegsverlauf — zu interessanten Schlüssen.

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Genau vor 30 Jahren schloß sich der Ring um die deutschen Truppen in Stalingrad. Zehntausende starben an Entbehrungen und im Trommelfeuer der Roten Armee. Stalingrad wurde später immer wieder als Wende im Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Aber stimmt das wirklich? Neuere Geschichtsforschungen kommen — insbesondere im Hinblick auf den weiteren Kriegsverlauf — zu interessanten Schlüssen.

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Erinnern wir uns noch einmal an die Schlacht bei El Alamein und die alliierten Landungen in Afrika während des Spätherbstes 1942: Rommel zog eine italienisch-deutsche Panzerarmee und damit das sogenannte Deutsche Afrikakorps aus Lybien ins tunesische Grenzgebiet zurück. Sein Plan war, dort eine durch den Landschaftscharakter außerordentlich begünstigte Position mit schwächeren Kräften gegenüber der langsam aufschließenden Armee Montgomerys zu behaupten und währenddessen gemeinsam mit jenen italienischen und deutschen Truppen, die inzwischen Tunis besetzt hatten, den Hauptschlag gegen die unerfahrenen Amerikaner im Westen zu führen. Hiebei sollte ein maßgeblicher Teil der alliierten Streitkräfte gegen die Küste abgedrängt und eingekesselt werden. Nachher wollte sich Rommel wieder gegen Montgomery wenden und diesen durch Libyen zurücktreiben, während die Verfolgung des Feindes im Westen dem General von Armin zugefallen war.

Feldmarschall Rommel genoß damals nicht mehr das uneingeschränkte Vertrauen Hitlers, war überdies dem Commando Supremo Italiens untergeordnet und von Arnim gleichgestellt. So kam es zu Kompetenzschwierigkeiten, die durch Nachschubprobleme verschärft wurden. Hitler“ wünschte großangelegte Operationen, Feldmarschall Kesselring als oberster deutscher Befehlshaber im Mittelmeergebiet war mehr für begrenz-teres Manövrieren. Immerhin konnten Rommel Ende Jänner 1943 70.000 Mann und von Arnim 100.000 Mann mit modernstem Panzermaterial in Tunesien zum Einsatz bringen. Dazu kamen noch die zweitklassigen, aber numerisch bedeutsamen Italiener. Tatsächlich stellte der Durchbruch Rommels bei Kasserine im Februar die letzte siegreiche Schlacht des „Wüstenfuchses“ dar. Doch auf der Höhe dieses Erfolges mußte Kesselring persönlich eingreifen, weil Rommel am weiteren Kriegsglück zweifelte. Er flog ins Führerhauptquartier, riet dort, alles zu räumen und wurde prompt auf Krankenurlaub geschickt. General Arnim übernahm die gesamte Befehlsgewalt in Afrika, kapitulierte jedoch im Mai 1943 nach schweren Gefechten mit mehr als 250.000 Italienern und Deutschen, darunter auch vielen Österreichern. Insgesamt hatten die

Achsenmächte damit auf dem afrikanischen Kriegsschauplatz in den Jahren 1942/43 mehr als 340.000 Mann verloren, also viel mehr wie bei Stalingrad.

Dem dringlichen Wunsch Stalins nach Errichtung einer zweiten Front in Europa war damit freilich nicht genüge getan. Es ging vielmehr in Tunis, wie auch bei Sizilien, um die alliierte Sicherung des Mzwischen dem Atlantischen und dem Pazifischen, beziehungsweise dem Indischen Ozean.

Wenige Wochen später wäre der bereits erwähnte Augenblick dagewesen, an dem der zweite Weltkrieg beendet und eine andere Entwicklung als die heute bekannte eingeleitet hätte werden können. Warum kam es nicht dazu?

Dabei hatte der italienische Zusammenbruch im Sommer 1943 seine Schatten monatelang . Der deutsche Einfluß in Italien war seit der Errichtung von Kesselrings Oberkommando Südwest in Rom selbst für Mussolini nahezu unerträglich geworden. Unter dem Eindruck der Kriegslage in Nordafrika und in Rußland entsandte der Duce im Dezember 1942 Außenminister Graf Ciano zu Hitler, um diesen für einen Separatfrieden mit der Sowjetunion zu gewinnen. Hitler lehnte ab, da er an das totale Ausbluten der Russen und Engländer glaubte. Daraufhin berief Mussodini den eher deutschfeindlichen General Ambro-sio als Chef ins Commando Supremo Italiens. Ambrosio begann sofort, italienische Truppen aus dem Balkan abzuziehen, um auf der Appenninenhalbinsel selbst stärker zu werden. Eine Gipfekonferenz H-Mussolini im April 1943 brachte erneute Differenzen über die Friedensmöglichkeit und die Verteidigung Italiens gegen eine alliierte Invasion. Im Mai mußten Mussolini und Ambrosio den Einmarsch von drei deutschen Divisionen in Italien gestatten, da die eigene Wehrmacht keine Gewähr für erfolgreiche Abwehrmaßnahmen gegenüber alliierten Landungen bot. Hitler wollte noch zwei weitere Divisionen nachschicken, doch Mussolini lehnte ab. Daraufhin bereitete der deutsche Generalstab den Einmarsch von

sechs bis sieben weiteren Divisionen für den Fall vor, daß Mussolini mit dem Reich brechen würde. Nach der Invasion Siziliens durch die Anglo-Amerikaner kam es jedoch zu einer weiteren Begegnung der beiden Staatsmänner. Diesmal verlor der Führer die Nerven und forderte — wohl unter dem Eindruck der Vorgänge auf dem russischen Kriegsschauplatz — eine gemeinsame Verteidigungslinie in Norditalien, also die Preisgabe des übrigen Landes. Mit diesem Vorschlag kam Mussolini nach Rom zurück und hatte dort als Regierungschef verständlicherweise weder beim König noch bei seinen Leuten eine Chance. Es half ihm nichts, daß er mittlerweile doch den Aufmarsch von sieben deutschen Divisionen, darunter die berühmte“ Luftwaffenfelddivision Hermann Göring, in Italien gestattet hatte, im Gegenteil, er war damit zur Puppe der Reichspolitik herabgesunken. Die Preisgabe Österreichs anno 1938 rächte sich somit schon fünf Jahre später am Duce aufs bitterste.

Zwischen der Verhaftung Mussolinis und der Verkündung des Waffenstilstandes mit Italien durch Eisenhower wenige Stunden vor der alliierten Landung südlich Neapels

lagen schicksalsschwere Wochen, die ein allgemeines Kriegsende in Europa noch immer möglich erscheinen ließen. Besonders in den südwestlichen Gebieten der Donau- und Alpengaue Deutschlands war damals die Meinung verbreitet, „der Italiener mache den Krieg gar“. Die Regierung Marschall Badoglios war tatsächlich willens, mit den Alliierten wie auch mit ihren bisherigen Verbündeten zu einer Übereinstimmung zu gelangen. Badoglio selbst wollte deswegen Hitler aufsuchen.

Dagegen standen die personelle Unfähigkeit des römischen Kabinetts, mit einer außergewöhnlichen Situation fertig zu werden, sowie das Beharren der Alliierten auf bedingungsloser Kapitulation Italiens; genauer: deren irrige Annahme, den Italienern Zeit zur Einsicht lassen zu können. Last, not least aber der Wille Hitlers zur Fortführung des Krieges. Die Deutschen brachten Italien sofort in ihre Gewalt, ohne sich um Badoglio zu kümmern, und erhöhten dort ihre Streitmacht auf 24, später auf annähernd 30 Divisionen. Die Alliierten verloren demgegenüber tiie Hoffnung auf ihren raschen Einzug in Rom und Hitler ließ sich von seinen Generälen überzeugen, daß eine Zurücknahme der Front etwa auf die spätere Gotenlinie gar nicht notwendig sei. Die Generäle behielten damit noch fast ein Jahr lang recht, Ihrem Führer fehlten allerdings die Soldaten im Osten.

Auf dem Balkan und im griechischen Raum war das Ausscheiden der Italiener den Deutschen viel unangenehmer, ohne daß die Alliierten daraus Vorteil zogen. Es kam zu nervösen Metzeleien bei ein oder zwei italienischen Kontingenten, die sich der Wehrmacht Hitlers nicht wollten, und die Amerikaner flogen erstmals über den Balkan nach Rumänien ein, wobei sie ebenfalls furchtbare Verluste erlitten. Schließlich wurden die italienischen Truppen, die auf der Apenninen-halbinsel selbst stationiert waren, von den Faschisten mit deutscher Billigung nach Hause geschickt. Nur wenige stießen zu jener Einheit, die Badoglio auf alliierter Seite kämpfen ließ. Eher entschloß man sich zur Begünstigung heimischer Partisanen und verbarg sich vor der Verschik-kung als Arbeiter ins Reich. Italien hat diese Hinwendung zum Partisanenkampf, der sich zwangsläufig auf engem Raum abspielen mußte, mit Hekatomben von Blut bezahlt, das heute schon fast vergessen ist. Später rüsteten die italienischen Regierungen mit US-Hilfe eine reguläre Streitmacht aus, auf die Mussolini in seiner Glanzzeit neidisch gewesen wäre.

Es wurde langsam Zeit: Wohl waren Hitler und die Seinen hinter der Gotenlinie verschwunden und die Anglo-Amerikaner hatten dafür gesorgt, daß die Kommunisten der norditalienischen Industrieregion nicht jene Bedeutung erlangten, die sich die UdSSR wahrscheinlich im Frühjahr 1945 erhoffte. So schob sich die Gotenlinie etwas nach Osten zurück, aber für das mit dem Westen liierte System in Rom und für die Experten des Atlantikpaktes ist der erzielte Geländegewinn bis dato nicht übertrieben groß geworden. Jene Österreicher, die Sommer für Sommer durch die Karnischen Alpen zur Adria fahren, werden deshalb stets durch vorbeiziehende Truppenmassen, Düsenjäger und Sperrgebiete unangenehm gestört. Der wahre Kern vieler Gerüchte, die in Wien während der Tschechenkrise kursierten, ist zum Gutteil in der erstarrten Situation dieses Wetterwinkels zu suchen.

Der zweite Weltkrieg, ging jedenfalls ohne sichtbare Zeichen des Nachlassens bis zum Führerattentat im Sommer 1944 weiter und dauerte selbst nachher noch fast zehn Monate. In seiner unverständlichen Länge bildete er eine schauerliche Parallele zum nahezu ewigen Krieg in Vietnam. Nach dem totalen Erschöpfungszustand Europas im Jahre 1945 kamen bekanntlich wirtschaftliche Bluttransfusionen von Ubersee, kam das Sauerstoffzelt — oder der Käsesturz. Nun soll die Sicherheitskonferenz in Helsinki die harten Tatsachen unter dieser Glasglocke aufweichen, das dauernde Besetzthalten der Schützengräben gleichsam zum übertriebenen Luxus erklären. Das kann nur dann geschehen, wenn die Hauptpartner ihre Interessen auf andere Art gesichert wissen. Es scheint für Österreich angezeigt, sich dieser Situation zu erinnern, bevor es sich auf außenpolitische Risken einläßt, auch wenn diese zunächst harmlos ausschauen.

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