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Der Stillstand dauert nicht ewig

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„Was wollen Sie, wir haben 14 Opernensembles im Land, je eins auf eine Million Einwohner, und alles müssen wir mit eigenen Kräften bestreiten.“ So erklärte ein Prager Fachmann die unüberhörbaren Schwächen im Ensemble des Prager Nationaltheaters. Die Versorgung mit Opernhäusern entspricht etwa der Österreichs. Aber wieviel Prozent der Sänger in Klagenfurt oder Innsbruck sind noch Österreicher? Von Wien gar nicht zu reden. Selbst die Budapester Staatsoper, die über deutlich mehr und bessere einheimische Sänger verfügt als Prag, putzt ihre Vorstellungen gern mit Gästen aus Ost und West auf und nimmt in Kauf, daß diese in ungarisch gesungenen Opem deutsch oder russisch oder italienisch singen. Dafür schleppt das Prager Ensemble eine große Zahl längst pensiönsreifsr Damen ;und Herren mit, die das Niveau belasten. Przemysl Koii ist Generalintendant des Nationaltheaters, wirkt außerdem häufig als Regisseur und dürfte im Augenblick auch die verwaiste Position des Operndirektors größtenteils mitverwalten.

An der Spitze .geht es nämlich geheimnisvoll zu. Der Amtsantritt des Opemchefs Dr. Ladislav Sip (vormals in leitender Position bei der Schallplattenfimra „Supraphon“) war 1974 von ebenso viel Gerücht und Gemunkel begleitet wie sein abruptes Verschwinden im Jahr darauf. Nach den Jahren 1968/69, denen ein allgemeines Sesselrücken folgte, hatte man zunächst als Nothelfer Doktor Vaclav Holzknecht zum Operndirektor bestellt, den Pianisten und Musikschriftsteller, langjährigen Direktor des Konservatoriums und Präsidenten des „Prager Frühlings“. Er hatte es wohl als seine Pflicht angesehen, in der Stunde der Ratlosigkeit dem traditionsreichen Institut zu helfen und behutsam die Weichen gestellt für ein allmähliches Füllen besonders empfindlicher Lücken im Repertoire und im Ensemble. „Arabella“ und „Walküre“ zum Beispiel

kamen unter seiner Ägide ins Programm, 1974 wurde „Ooriolanus“ von Jan Cifcfcer uraufgeführt. Im selben Jahr, zum 150. Geburtstag Smetanas, konnte Holzknecht als Krönung seines Wirkens einen Zyklus von sieben Smetana-Opern präsentieren. Damit war aber schon seine Zeit abgelaufen. Man hatte ihn nur als Über-gangslösung geholt, und der vornehme ältere Herr hatte wohl auch nicht die Pranke, um die Zügel dieses Betriebes auf die Dauer in der Hand zu behalten. Da es aber mit seinem Nachfolger nicht so recht klappte, wirkt er immer noch im Nationaltheater. Holzknecht hatte mit der „Walküre“, die im Frühjahr 1972 nach 56 Jahren wieder auf den Spielplan kam, eine Informationspflicht erfüllen wollen, aber nicht an einen vollständigen „Ring“ gedacht — eben im Hinblick auf andere Repertoire-Lücken. — Für das tschechische Publikum ist die Auseinandersetzung Wagners mit germanischer

Mythologie von sekundärer Bedeutung. Man erkennt heute in ihm immer deutlicher und unbefangener den großen Anreger der neueren tschechischen Musik. Ein Smetana, alber auch kleinere Meister wie Fi-bich sind ohne Wagner nicht denkbar. In Zeiten eines übersteigerten Nationalismus wollte man das nicht wahrhaben. Der letzte Anlauf, den „Ring“ im tschechischen Nationaltheater herauszubringen, wurde während des Ersten Weltkrieges unternommen, kam aber auch damals nicht bis zur „Götterdämmerung“, weil der Dirigent Karel Kovafovic starb. Die neuen Inszenierunigen von Ladislav Stros — de? ja viel im Westen arbeitet und mit aktuellen Wagner-Deutungen vertraut ist — gingen behutsam vor, versuchten, die fremde Götterwelt dem Publikum verständlich zu machen und die mythologischen Gestalten plastisch und menschlich herauszuarbeiten. Nachdem Jaroslav Krombholc als Dirigent der „Walküre“ — vielleicht unbewußt — im Klangbüd eine Brücke zu Smetana geschlagen hatte, übertrug man das „Rheingold“ dem authentischeren Heinz Fricke von der Ostberliner Staatsoper.

Stros stellte sich mit seinem „Barbier von Sevilla“ im Tyl-Thea-ter wieder einmal als Mitglied jener unbändigen Prager Regie-Schule vor, der jeder Stillstand auf der Bühne als Langeweile für das Publikum erscheint. Diese Einstellung, die man ja auch bei Ka&lik oder Hrdliöka (Herlischka) findet, muß in den ersten Nachkriegsjahren entstanden sein, als man die Arbeiter und Bauern in die Theater trieb und glaubte, ihnen etwas „bieten“ zu müssen. Und manchmal reagiert das Publikum heute noch so matt, daß man sich fragt, ob es sich um eisige Ablehnung von Kennern handelt, oder um Unsicherheit von Neulingen vom Land (auf die draußen die Autobusse warten). Den Kennern kann es ja nicht viel ausmachen, wenn sie die

soundsovielte „Barbiere-Inszenierung in Musical-Nähe erleben.

Im selben Haus, das man im Gedanken an die Uraufführung des „Don Giovanni“ immer mit feierlichen Gefühlen betritt, inszenierte kürzlich Vaclav Kailik wieder einmal die „Zauberflöte“. Auch er sprudelt über von Einfällen, denkt aber sein Konzept zuweilen in der Eile nicht zu Ende. Er verlegt die Geschichte in die Mozartzeit und läßt die Priester als eine Versammlung weißgepuderter Adeliger auftreten. Man könnte auch an eine kleine Freimaurer-Loge denken, aber dergleichen ist heute in der CSSR nicht sehr erwünscht. So muß man die Maurer-Symbolik an einigen unauffälligen Dreiecken erkennen. Es könnte auch ein Spiel auf einem böhmischen Adelssitz sein. Jedenfalls: Spiel im Spiel — das schafft Distanz, die Skepsis der Interpreten ausdrückt und die Vermutung, das Pubrikum glaube die naive Geschich-

te sowieso nicht. Aber die Musik widerspricht dem und ergreift trotz aller Distanzierung.

Das Staatstheater Brünn ist heute das zweite Zentrum des tschechischen Operntheaters, und oft ist es viel interessanter als Prag. Der Generalintendant Karel Seda führt das komplizierte Unternehmen ( mit scheinbar unerschütterlicher Ruhe. Zwar ist das Ministerium in Prag weit, aber die örtlichen Behörden des südmährischen Kreises sind um so näher. Die Direktiven, die von dort kommen, mit den Erfordernissen der Kasse (die heute in der CSSR sehr ernst genommen werden) und künstlerischen Ansprüchen in Einklang zu bringen, dürfte nicht ganz leicht sein. Aber der Brünner Opernspielplan hat immer Raritäten bereit. Hier erlebte man die tschechische Erstaufführung der „Lulu“ die Ururfassungen von ,JBoris Godu-now“ oder „Aus einem Totenhaus“ oder eine diskussionswürdige Bearbeitung von „Fürst Igor“, Unbekanntes von Martina und alljährlich mindestens eine Uraufführung. Leider sind die aparten Produktionen von Vaclav Noseks „Minioper“ nur selten im Programm. Man muß Glück haben. Zum Beispiel gab es jüngst einen Abend im „Reduta“-Theater unter dem Titel „Opern-Aprokry-phen“. Josef Berg (1927—71), der jung verstorbene Brünner Komponist, war eine eigenwillige, witzige Begabung, stark von Dada wie auch von der „Kölner Schule“ beeinflußt, in seinen selbst geschriebenen Libretti betont pazifistisch gesinnt. Seine Bemühungen um neue Formen des Musiktheaters waren bei seinem frühen Tode erst zum besseren Sketch gediehen. Vermutlich hatte er seine beste Zeit noch vor sich. Im ersten Opernversuch, „Die Heimkehr des Odysseus“ für Sopran, Bariton, Rezitator, Ballerina und einige In-strumentalisten, kommt er zu dem Schluß, daß der langerwartete Held, als er endlich heimkehrt, von allen ignoriert wird: Wer anderer Menschen Häuser zerstörte, hat kein

Recht auf Heimat. Wer anderen die Familie nahm, keinen Anspruch mehr auf Familienglück.

Auch der 55jährige IJja Hurnik hat sich selbst ein Libretto geschrieben: „Diogenes.“ Dieser wird von einem Mädchen geliebt Sie holt Rat bei einem Faun, der den Einsiedler zur Musik verführt Als er die ersten Töne auf der einfachen Flöte zustande bringt, braucht er auch gleich einen Zuhörer. Aber als das Mädchen begreift, daß es nur als Publikum geliebt .wird, geht es weinend davon. Der Philosoph aber merkt, wie die Flöte seine Ruhe stört und wirft sie ins Meer. Nun hat er Sehnsucht nach der F'.öte. wi? das Mädchen nach ihm. Sind sie unglücklich? Niemand kann' unglücklich sein, der Sehnsucht hat — lehrt der Autor. Auch Hurnik setzt eine gemäßigt moderne Tonsprache und einfache Bühnenmittel ein. Er besticht vor allem durch eine überaus operngerechte Thematik. Zu solchen Halb-

stunden-Stückchen wollte eine ebenso vereinfacht dargebotene Fassung von Purcells „Dido und Aeneas“ nach der Pause nicht so recht passen. *

Solche Studio-Produktionen bleiben natürlich mehr am Rande des Theatergeschehens. Als Opfer für die Massen ist dagegen „Morgenrot“ von dem 66jährigen Karel Horky gedacht Eine ähnliche Punktion hat schon nach 1948 der Roman „Neue Kämpfer werden aufstehen“ von dem nachmaligen Staatspräsidenten Antonin Zapotocky samt ihren verschiedenen Dramatisierungen und Verfilmungen erfüllt. Zapotocky erzählte darin vom Kampf seines Vaters, eines Gewerkschaftlers und

altösterreichischen Reichsrats-Abge-ordneten. Wie er, aus Prag verbannt, auf dem Land das politische Bewußtsein der kleinen Leute schult Nun hat also der Genosse Budecsky, wie er literarisch heißt, auch die Opernbühne betreten. Aber wenn man die vielen leeren Sitze betrachtet, möchte man vermuten, daß trotz aller Schulung . die Brünner immer noch mehr vom Schicksal der Tösca oder der Violetta bewegt werden, als von dem Budecsky s und seiner Dorf genossen. Die Musik ist zwar, von Volksmelodien durchsetzt, um leichte Faßlichkeit bemüht, aber sie regt niemanden auf. Dabei ist die Aufführung von guter Qualität. Schließlich wollen alle Beteiligten die Gelegenheit nutzen, ihre einwandfreie Gesinnung vorzuzeigen.

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Die Slowakei führt seit der Föde-ralisierung von 1968 ein gewisses kulturelles Eigenleben. Gerade der Musdkbetrieb hat sich spürbar ent-

wickelt. Das Opernensemble von Preßburg (außerdem wird noch in Kosice und Banska Bystrica Oper gespielt) übertrifft in der Qualität heute das von Prag, Die Regisseure kennen ihre Grenzen und experimentieren maßvoll. Am Dirigentenpult findet man neben dem Chef Zdenek Koäler einige solide Kapellmeister. Einer von ihnen, Tibor FreSo, hat nach slowakischen Märchenmotiven eine hübsche Kinderoper geschrieben; „Martin und die Sonne.“ Sie findet in Sonntags-Matineen immer wieder ein andächtig lauschendes junges Publikum, langweilt aber auch Erwachsene nicht — zumal die Ausstattung eine Augenweide ist und recht gut gesungen wird

Das Neueste ist eine Oper des 57jährigen Bartolome] Vrbanec nach der dramatischen Ballade „Frau im Morgengrauen“ von dem Spanier Alejandro Casona. Im Mittelpunkt steht eine Pilgerin, die der Tod ist. und, indem sie sich einmal menschliche Gefühle srlaubt, einige Verwirrung stiftet, die sie aber weise korrigieren kann. Die Wahl des Stückes als Opernstoff überzeugt ebenso, wie die dramaturgische Bearbeitung (Kürzung) und die tiefempfundene, wenn auch nicht sonderlich originelle Vertonung. Dieser ländliche Stoff scheint sich leicht vom spanischen in ein anderes Bauernmilieu übertragen zu lassen. Urbanec hat auch eine durchaus slawisch gefärbte Tonsprache gewählt. Die Handlung ist zwar nicht gerade religiös, aber es gibt doch religiöse Anklänge, vor allem im Volksbrauchtum, das den Hintergrund bildet. Im Gewand der Folklore ist christliche Überlieferung offenbar sogar in der Slowakei gestattet. Auch eine Aufführung der Hohen Messe von Bach unter der Leitung von Karl Richter im Konzert-Abonnement Aber auf den Abdruck des Textes und gar der Übersetzung im Programmheft hat man verzichtet.

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Fazit: Das Opernleben, vor allem das aktuelle Opernschaffen hat in der CSSR auch heute noch, eine gewisse Vielfalt. Zwar kommen vorwiegend jene Komponisten zum Zuge, die (in der tschechischen Republik) Mitglieder des neuen Komponistenverbandes sind Und das sind meist jene, die sich in den Jahren vor 1969 als unmodern an die Seite gedrückt fühlten. Aber Experimente sind nicht unmöglich. Es muß sie nur jemand verantworten. Das entspricht der Lage beim gedruckten Wort: seit die Zensur aufgehoben ist, liegt die Verantwortung'nicht mehr beim Zensor, sondern beim Redakteur. Und der traut sich meist weniger als früher der Zensor. Er riskiert auch mehr.

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