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Der Sturz vomFelsen

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X • D mehr als vierzig Jahren, in Budapest, blickten wir Kinder entsetzt auf die massigen rundlichen Felsen, die sich -wie Wolken aus Stein - übereinander-türmten: Da also, ja, genau da ist es damals geschehen; und dieses Damals verschwand irgendwo in der Tiefe der Geschichte, in der beängstigenden Phantasiewelt der Märchen.

Gellert-Berg hieß das Massiv, benannt nach dem Heiligen Geliert, auf Deutsch Gebhard, der hier damals ...

Die Szene, die wir uns ausmalten, war dramatisch, blutig, erhaben, wie die Szene einer Oper. Blocksberg wurde der Berg auf Deutsch genannt und über einem Blocksberg, das wußten wir, versammelten sich in manchen Nächten auf Besenstielen reitend die Hexen. Die Hexen also in der Höhe, und zwischen Felswand und Fluß das brüllende Volk, die Schamanen, und, aus der Höhe in den Tod niedergestürzt der Mann im Priestergewand.

2nbsp;• Der Hintergrund. Hundert Jahre zuvor waren die Ungarn noch halbe Nomaden; ihre gesellschaftliche Organisation war der Stammesverband und die Sippe, ihre Religion der Schamanismus.

Erst 74 Jahre vor dem Märtyrertod des Bischofs Geliert oder Gebhard war Geza, Urenkel des legendären Arpäd, an die Macht gekommen. Er hatte in gleicher Zahl Schamanen und christliche Priester um seinen Thron versammelt. Sein Sohn, Vajk, wurde dann doch getauft. Er hieß von nun an Stephan. Im Jahre 997 folgte er seinem Vater, ließ sich sechs Jahre später krönen, und betrachtete sich von da an formal als Vasall und in Wirklichkeit als Verbündeter von Rom und Byzanz.

Er hatte noch 37 Jahre zu regieren. Er brachte seinem Volk das Christentum, bekämpfte den Schamanismus, wählte, dem karolingischen Beispiel nacheifernd, den zivilisatorischen Fortschritt und die humane Moral.

Vajk oder Stephan starb 1038. Sein politischer Kreis wirkte weiter, hatte allerdings keinen Mittelpunkt. Imre, der Thronfolger, war im Jünglingsalter gestorben. Peter, der Sohn eines Dogen, der die Schwester des Ungarnkönigs geheiratet hatte, und der wilde Aba Samuel kämpften um die Macht. Die Männer jener politischen Führung, die Stephan organisiert hatte, hielten von beiden Königen wenig. Geliert weigerte sich auch, Aba Samuel zu krönen. Das geschah zwei Jahre vor seiner Ermordung. Gefolgsleute von Stephan waren für einen dritten. Er war ein Verwandter des verstorbenen Königs und hieß Andreas. Er stammte aus jenem Zweig der Dynastie, die dem Schamanismus treu geblieben war, hatte sich aber zum Christentum bekehrt. Andreas verkörperte im gegebenen Augenblick die politische Möglichkeit, östliche und westliche Orientierung, schamanistische Vergangenheit und christliche Zukunft in einer Person zu vereinen.

Geliert, Bischof von Csanäd, war gerade auf dem Weg, diesen Andreas ins Land zu führen. Unterwegs wurde er gelyncht.

3nbsp;• Die Szene. Wir besitzen über die Geschehnisse jenes 24. Septembers 1046 einen ziemlich genauen Bericht, formuliert von einem Chronisten des frühen 13. Jahrhunderts auch unter Zuhilfenahme der „Legenda minor" aus dem Jahre 1109. Es wird Folgendes berichtet:

„Als Bischof Geliert mit seinen Gefährten bei der Tester Fähre anlangte, wurden sie vom heidnischen Wata und seinen Kumpanen, die vom Teufel besessen waren, übermannt. Sie ergriffen Steine und bewarfen damit die Priester. Bischof Geliert aber segnete sie mit dem Zeichen des Kreuzes, was sie noch mehr aufbrachte. Sie warfen sich auf den Bischof, rollten seinen Pferdewagen in die Donau, setzten ihn auf einen Karren, fuhren ihn auf den Berg Kelen und stießen ihn von dort in die Tiefe. Doch weil der Bischof unten am Ufer der Donau noch atmete, stießen sie ihm eine Lanze in die Brust und schlugen seinen Kopf gegen einen Stein."

Der Chronist fügt noch hinzu, daß das Wasser der Donau bei Uber-schwemmungen die Blutspuren nicht zum Verschwinden brachte.

Geliert wurde in Csanäd begraben und 37 Jahre nach seinem Märtyrertod (gemeinsam mit Stephan und dessen Sohn Imre) heiliggesprochen.

4laquo; Der Mann. Der ungarische Heilige war ein Italiener. Er hieß ursprünglich nicht Geliert oder Gebhard, sondern Georg oder eigentlich Giorgio, und stammte aus der lombardischen Patrizierfamilie Sagredo. Sein Vater Geb-hardus war Bürger von Venedig, nahm an einer Pilgerfahrt ins Heilige Land teil, und wurde unterwegs von Arabern getötet. Da besuchte Giorgio bereits die Schule der Benediktiner auf San Giorgio Maggiore. Von nun an nannte er sich nicht mehr Giorgio, sondern nach seinem Vater, Gebhardus.

Er lernte dann in Bologna. Nach seiner Rückkehr wurde er Abt auf San Giorgio Maggiore, fuhr aber 1015 als Pilger ins Heilige Land. Er war fünfunddreißig.

Ein Sturm brachte ihn in den Hafen einer kleinen Insel nahe Pula. Auch Ra-zina, der Abt von Pannonhalma, verweilte auf der Insel Sankt Andreas. Er bat Giorgio oder Gebhard, den Umweg über die Donau zu wählen, bei König Stephan zu erscheinen und danach über die Donau und über Konstantinopel ins Heilige Land weiterzureisen.

Stephan ließ Gebhard nicht weiterziehen. Er machte ihn zum Erzieher seines Sohnes. Er schickte ihn in einer diplomatischen Mission nach Paris. Aber Gebhard ließ nicht locker. Als der Thronfolger sechzehn wurde, zog er sich zurück. Er lebte 1023 bis 1030 als Einsiedler in den Wäldern westlich des Balaton. Da wurde er von Stephan in die Politik zurückgeholt.

Gebhard taufte das Volk, gründete Schulen, sorgte für den Priesternachwuchs, setzte einen gewissen Herrn Walter als Lehrerein, sicherte in seinen Kirchen das Asylrecht und wurde - ein Vorkämpfer des Marienkultes - als ein Mann von wissenschaftlichen Interessen bekannt. Er lebte äußerst bescheiden.

Mit den Bischöfen Besztered, Böd und Beneta gehörte er zu den auch politisch wirksamen Männern der Zeit, die es für ihre Aufgabe hielten, Stephans politisches Testament zu vollstrecken: das Ungartum von der asiatischen Kultur loszulösen und im europäischen Kulturkreis zu verankern.

Andreas, den Gebhard herbeiholen wollte, entsprach dieser Vorstellung; „der heidnische Wata" wußte genau, warum er den Pöbel dazu mißbrauchte, Gebhard umzubringen.

5i Die Moral. Die Geschichte des Heiligen Geliert rührt an Fragen, die bis heute bedrängend aktuell sind.

Für den wahren Christen bietet sie Bestärkung durch das Beispiel der selbstbewußten Demut. Für den Kulturhistoriker dient sie als exemplarischer Fall, der geeignet ist, die Wirkungen der mediterranen Kultur unter Beweis zu stellen: Siehe da, ein Benediktiner aus Venedig wurde zum Vertrauensmann eines noch im asiatischen Glaubensgut verwurzelten, dann allerdings zum Christentum vorstoßenden Monarchen! Für einen Marxisten verkörpert Gebhard die Sache des Fortschritts: Die Schamanengläubigen sind die Reaktionäre, also ist der Heilige Geliert ein progressiver Held.

Es wird hier aber zugleich auch das Dilemma einer Nation gleichnishaft zum Ausdruck gebracht. Bis heute fühlen sich die Ungarn als Volk, angesiedelt an der großen Grenze zwischen Orient und Okzident, aufgerufen, zwischen den beiden Himmelsrichtungen zu wählen oder die beiden miteinander zu vereinen. Orient heißt in diesem Sinn: Emotion, ungeschliffene Kraft, der Anspruch auf völlige Freiheit, also auch auf die Möglichkeit, ins Ungewisse aufzubrechen. Okzident aber heißt: Ratio, Überlegung, Einsicht, Selbstdisziplin, Domestizierung der Triebe. Wo sind die Ungarn daheim? Wohin sollen sie streben? Die Frage durchzieht tausend Jahre Geschichte und ist auch heute bewegende Kraft des politischen Handelns. Sie steckt in den Debatten zwischen „Urbanen" und „volksverbundenen" Autoren, zwischen Nationalisten und Kosmopoliten, zwischen den Träumern einer scha-manistischen Urwelt und den Planern einer europäischen Humanität.

Giorgio, der Venezianer, wurde als Heiliger Geliert für die Ungarn zur Symbolfigur einer zivilisatorischen Entscheidung.

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