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Der Sündenfall

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Der Autor fährt in den linkskatholischen Tendenzen seines Vaters August Maria Knoll fort. Er sieht in dem Hineinwachsen der klassenlosen Christlichsozialen Volkspartei in jene führende staatstragende Funktion, die den christlichen Demokraten in Österreich zwischen 1907 und 1970 zugekommen ist, primär nur einen Akt der „Verbürgerlichung“. Und diese Verbürgerlichung ist in den Augen des Autors jener „Sünden-fall“, mit dem die bahnbrechende katholische Sozialreformbewegung Österreichs in fatale Verstrickungen geriet, um deren Erkundung der Autor in dem vorliegenden Buch bemüht ist.

Nahezu die Hälfte des Buchtextes ist eine Darstellung jener geistesgeschichtlichen Entwicklung, deren Finale der Aufbruch der katholischen Sozialreformbewegung in Österreich gewesen ist. Der Autor bestätigt einmal mehr, was der führende Austromarxist Otto Bauer bereits 1911 attestieren mußte: In Österreich hat die katholische Sozialreformbewegung ein unbestreitbares Erstgeburtsrecht gegenüber der marxistischen. Und das trifft nicht nur für die Ära Vogelsang und Lueger zu. Bereits eine Generation vor dem Auftreten Karl Marx hat der Hofrat der Wiener Staatskanzlei Adam Müller in seiner Staats- und Gesellschaftslehre jene mit der industriellen Revolution verknüpften Gefahren aufgezeigt, die wir jetzt erleben müssen. Der Romantiker Adam Müller sah eine Ordnung der Gesellschaft im Staat voraus, die er in seiner altvaterischen Sprache als „bloße Manufaktur, Meierei, Assekuranzanstalt oder merkantile Sozietät“ diagnostizierte. Einen Staat also, der keine sittliche Gemeinschaft mehr ist und in dem das Verhältnis des Weltganzen zu Gott gelöst werden soll. Vor dieser ultima ratio des Industriezeitalters weicht Adam Müller nicht bloß in vorindustrielle Vorstellungen aus (wie es der Autor im Sinne der jetzt vorherrschenden Kritik an der Romantik herausstreicht). Er warnt vielmehr vor einer Perfektionierung und Übersteigerung des Industriesystems und damit vor einem Risiko, das der jetzt lebenden Generation natürlich leichter verständlich ist als den Zeitgenossen Adam Müllers (1779 bis 1829), die bereits den Träumen des Maschinenzeitalters nachhingen. Gerade in die Ubersteigerung des Industriesystems setzte aber nachher Karl Marx seine politischen Erwartungen. Denn Marx rechnete damit, daß „in der totalen Industrialisierung das Anwachsen des Proletariats den revolutionären Umschwung zur Übernahme der Produktionsmittel verursachen würde“ (Seite 63). Wir fügen hinzu: Nicht nur die Übernahme der Produktionsmittel, sondern die Übernahme der Macht im Staate. Denn in den „sozialistischen“ Ländern „stirbt der Staat nicht ab“ (wie Marx theoreti-sierte), er wird vielmehr totaler Staat unter dem Stigma des Sozialismus.

Was dem Buch abgeht, ist die gründliche Einsicht in die Tatsache, wonach die beharrliche Feindseligkeit von Marx gegen die christliche Moral und der systembedingte Atheismus des Marxismus (sowie aller auf ihm beruhenden Systeme-primär nicht politisch im Sinne der Klassenkampfidee bedingt ist, sondern philosophisch-weltanschaulich. Zeitweilige tagespolitische Allianzen der Christlichsozialen und ihrer Nachfolger mit dem Wirtschaftsliberalismus sieht der Autor mit der ganzen Schärfe der Voreingenommenheit. Das unzerreißbare Conti-nuum, das von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts über den Liberalismus zum Marxismus führt und in diesem Sinne bis heute tagespolitische Bedeutung hat, wird vom Autor kaum angedeutet.

Und so bleibt es dem Leser unverständlich, warum seit den Tagen Luegers Millionen Menschen in Österreich trotz ihrer kleinen und kleinsten Einkünfte eben nicht die aus dem Marxismus hervorgegangene Arbeiterpartei gewählt haben, sondern die christlichsoziale und deren Nachfolger. Daß diese Massen die Solidarität aus dem religiösen Glauben höher stellten und stellen als das von Marx instruierte Bewußtsein einer Klassensolidarität bleibt nicht nur dem Leser, sondern offensichtlich auch dem Autor unverständlich. Obwohl sich letzterer seines Naheverhältnisses zu „kirchlicher und christlichsozialer Politik“ rühmt. Und da die durchgehende Solidarität aus dem religiösen Glauben im Sinne der jetzt in der Politologie vorherrschenden Tendenzen absolut systemwidrig ist, bleibt dem Autor nur eine Antwort auf die Frage, warum es ausgerechnet den „verbürgerlichten“ Christlichsozialen gelungen ist, den Durchbruch zu den Massen zu erzielen und jahrzehntelang zu behaupten: Knoll sieht hierin nur den Erfolg des „Charismas“, das der Doktor Lueger zufällig besessen haben soll. Basta. Kein Wort der Erklärung fällt darüber, daß sich dieser Durchbruch zu den großstädtischen Massen ausgerechnet in Österreich vollzog; in einer Zeit, als Italiens Katholiken noch betreten schwiegen; als in Frankreich die Katholiken geduckt einen neuen Vernichtungsschlag des bürgerlichen Atheismus erwarteten; und als in Preußen tatsächlich jene honoratiorenmäßig organisierte und kirchlich abgestützte konfessionelle Minoritätspartei des Zentrums bestand, deren Image der Autor so gerne der Luegerpartei anhängen möchte.

Woher die Christlichsozialen auch nach der — nicht zuletzt von ihnen — betriebenen vorbildlichen Demokratisierung des Wahlrechtes in Österreich (1907) samt ihren Nachfolgern bis unlängst ihre Majoritäten bezogen haben, bleibt in dieser Sicht schleierhaft. Denn noch im Schlußwort zeigt der Autor ein Absinken der Christlichsozialen und ihrer Nachfolger in trostlose Verirrung und klassenkämpferische Einseitigkeit auf, das nach seiner These Folge des „Sündenfalls“ ihrer „Verbürgerlichung“ ist. Unversehens korrigiert der Autor selbst dieses Image eines unaufhaltsamen Verfalls. Aus den von ihm herangezogenen Wahlstatistiken geht nämlich hervor, daß auch nach dem fraglichen Sündenfall der Vormarsch der Christlichsozialen in den Wiener Arbeiterbezirken angehalten hat. 1908 zum Beispiel verlor die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Ottakring, Favoriten, Bri-gittenau, Simmering und Floridsdorf Tausende von Wählerstimmen, während die „sündigen“ Christlichsozialen gerade in diesen Arbeiterbezirken beträchtliche Stimmengewinne erzielen konnten. Selbst unter den desolaten Verhältnissen, die nach dem Tode Luegers (1910) zeitweise in der Partei einrissen, konnten bei der Reichsratwahl 1911 die christlichsozialen Kandidaten im ersten Wahlkampf in umstrittenen Bezirken die relative Mehrheit der Wählerstimmen für sich gewinnen. Es bedurfte eines Wahlbündnisses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit den deutschnational-freisinnigen bürgerlichen Parteien, um in den Stichwahlen die „Schwarzen“ endlich gemeinsam niederzustimmen.

Seit der vom Einiger der Sozialdemokratie in Österreich Dr. Viktor Adler und dem „Vorläufer Adolf Hitlers“ Georg von Schönerer 1882 zustandegebrachten gemeinsamen Plattform des Linzer Programms von 1882 zieht sich ein unzerreißbarer Strang in die Gegenwart, der hält, wenn es zuweilen darum geht, die „Schwarzen“ unterzukriegen. Wer auf diese Variante im Spiel mit den drei Kugeln der drei politischen Richtungen in Österreich nicht rechnet, kann böse Überraschungen erleben.

Diese letztere Tatsache widerlegt aber auch die These des Autors, wonach die Abstützung der Christlichsozialen und ihrer Nachfolger durch den Wirtschaftsliberalismus geradezu systembedingt ist. Die heutigen politischen Verhältnisse in der BRD und in Schweden beweisen vielmehr, daß es sich bei der sozialistisch-liberalistischen Allianz nicht nur um ein zeitweises Spezifikum in Österreich handelt. Eine solche Allianz leitete 1970 die große Wendung In der österreichischen Innenpolitik ein. Der Autor hat wirklich gut daran getan, bei seiner Analyse eines Sündenfalles in der Politik im Jahr 1907 innezuhalten.

ZUR TRADITION DER CHRISTLICHSOZIALEN PARTEI. Von Reinhold Knoll. Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, Band 13. Verlag Hermann Böhlau, Wien. 319 Seiten, 420 S.

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