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Der Sunningdale-Defekt
Nach einem Bestehen von nur fünf Monaten ist die erste protestantisch-katholische Koalition in Belfast zusammengebrochen. Sie ist durch den Generalstreik der protestantischen Arbeiterschaft, der die Provinz total gelähmt hat, gestürzt worden. Damit ist jedoch etwas viel Wertvolleres zerstört worden: das (seit 1921) erste Experiment einer Versöhnungspolitik zwischen Nordirlands Protestanten und Katholiken.
Nach einem Bestehen von nur fünf Monaten ist die erste protestantisch-katholische Koalition in Belfast zusammengebrochen. Sie ist durch den Generalstreik der protestantischen Arbeiterschaft, der die Provinz total gelähmt hat, gestürzt worden. Damit ist jedoch etwas viel Wertvolleres zerstört worden: das (seit 1921) erste Experiment einer Versöhnungspolitik zwischen Nordirlands Protestanten und Katholiken.
Jetzt heißt es wieder von vorn anzufangen, nämlich zu dem Tag zurückzukehren, da die Londoner Regierung im März 1972 die Zügel der Verwaltung dieser Provinz aus den Händen der protestantischen Regierungspartei nahm, um Ulster eine neue Verfassung und eine politische Struktur zu geben, welche die katholische Teilnahme an der Regierung gewährleisten sollte.
Eine Reihe von Irrtümern und Fehlentscheidungen in London und Belfast hatte zu den Ereignissen des 28. Mai, zum Scheitern eines hoffnungsvollen Experiments geführt. Oliver Napier, Justizminister in der gestürzten Provinzialregierung, hat nach dem Rücktritt des „Chef-Ministers“ Brian Faulkner die Möglichkeit eines protestantischen faschistischen Staates in Nordirland in Aussicht gestellt. Dr. Conor Cruse O'Brian, einer der geachtetsten Minister in Dublin, hat in seinem 1973 veröffentlichten Buch „States of Ire-land“ dieselbe Möglichkeit in Erwägung gezogen, falls gemäßigte Elemente in Nordirland sich nicht durchsetzen sollten.
Welches waren die fatalen Irrtümer der letzten Monate? An der Spitze steht zweifellos Londons Fehleinschätzung der protestantischen Befürchtungen, daß die im Sunningdale-Abkommen vom Dezember 1973 niedergelegte Schaffung eines Ali-Irland-Rates, zu dem nord-und südirische Minister und Abgeordnete gehören, der erste Schritt zu einer getarnten irischen Wiedervereinigung unter dem katholischen Dublin sein könnte. Selbst die radikale Verbesserung des Plans, eine Woche vor dem Sieg der Streikenden über eine gedemütigte und machtlose Stormont-Regierung, genügte nicht, diese fast panische Furcht der Protestanten zu beschwichtigen.
Aber noch verheerender waren die
Folgen der englischen Illusion, daß nur „Extremisten“ hinter den Organisatoren des Streiks, dem bis vor drei Wochen noch unbekannten „Ulster-Arbeiterrat“, gestanden hätten. Diese Illusion war um so unverzeihlicher, als die Wählerschaft der Provinz, die protestantische Mehrheit, in den Westminster-Wah-len vom 28. Februar elf Abgeordnete nach London geschickt hatte, die geschworene Feinde des Sunningdale-Abkommens waren, und nur einen einzigen Pro-Sunningdale-Katholi-ken.
Die an sieh faire und vernünftige neue Ulster-Verfassung von 1973 — an der London über ein Jahr gearbeitet hat — besaß einen fundamentalen Defekt. Mit dem lobenswerten, aber aussichtslosen Versuch, es allen recht zu machen (beiden nordirischen Religionsgemeinschaf-
ten wie auch einer wohlwollenden Dublin-Regierung unter Premierminister Cosgrave), wurde offengelassen, wem alle Bürger Nordirlands letzten Endes die staatsbürgerliche
Treue schulden sollen: der britischen Krone oder einem geeinten Irland. Die Beantwortung dieser Frage wurde ohne Frist vertagt.
Die Wahlen zum Provinzparlament in Belfast hatten im Juni 1973 stattgefunden und mit einer Mehrheit für die neue Verfassung geendet. Aber erst sechs Monate später wurde der Sunningdale-Pak't von Londoner und Dubliner Ministern und von Vertretern der Faulkner-Verwaltung unterzeichnet. Erst im Dezember war dann von^den Sunningdale-Partnem die Verpflichtung eingegangen worden, den von den Ulster-Protestanten verabscheuten All-Irland-Rat ins Leben zu rufen.
Ob der Geist der Versöhnung, der zur protestantisch-katholischen Koalition und zu Sunningdale geführt hatte, den traumatischen Schock vom 28. Mai überleben wird, erwartet London heute mit Sorgen. Die Wiederbelebung einer Koalition erscheint gegenwärtig ausgeschlossen, weil sich keine protestantischen Politiker finden lassen, um Faulkne:
und seine bisherigen Minister zu ersetzen. Also hat London mit größtem Widerstretben die Verwaltung der unglückseligen Provinz auf mindestens vier Monate wieder selber übernehmen müssen.
Gewiß ist heute allein, daß die Geduld der Engländer mit den Nordiren dm Parlament, in der Öffentlichkeit und in der Presse in beschleunigtem Tempo dem Ende entgegengeht. Die Uls'ter-Protestanten sehen den Sturz der Faulkner-Koali-tion als einen Sieg für ihre Sache an. Alle Londoner Politiker hingegen, ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit, sehen ihn als eine Niederlage für Englands Prinzipien der parlamentarischen Demokratie an. Doch trotz ihren Enttäuschungen mit Londoner Regierungen seit fünf Jahren sehen die Ulster-Protestanten ihre historische Bindung mit dem Vereinigten Königreich der Engländer und Schotten noch immer als beste Garantie gegen eine gefürchtete zukünftige Fusion mit der katholischen Republik im Süden an.
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