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Digital In Arbeit

Der Tag der Wahrheit

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Ich hätte natürlich beschließen können, früher aufzuwachen. Aber ich war so drin im Träumen, und ich war so fasziniert von meinem träumerischen Einfall, daß ich grimmig entschlossen war, das Furchtbare bis zur Unerträglich-keit zu phantasieren.

Die nachtmahrische Idee war von ihrer Ausgangsbasis her völlig logisch. Wie es einen Muttertag, einen Vatertag, einen Tag des Baumes, einen des Kindes, des Tieres, des Sparens, der Much, des Brotes oder einen Tag der Arbeit gab, ersann ich nächtens den Tag der Wahrheit.

Was mir dabei sofort unangenehm auffiel, war, daß es ihn noch nicht gab. Es war offensichtlich nicht das Interesse vorhanden, man beging ihn erstmals in meinem Alb. Und als solcher entpuppte ef sich, er tat's vom ersten Moment an.

Ich war in meinem Traum zunächst, was ich immer war, also hatte ich des Morgens beim Verlassen des Hauses die Hausmeisterin zu grüßen. Eingedenk meiner gymnasialen Religionsstunden, die mich belehrt hatten, daß jede Lüge eine Lüge sei, was auch verharmlosende Bezeichnungen wie Notlüge, Ausflucht, Geflunker, Pflanz und derlei Verniedlichungen betraf, konnte ich einfach nicht „Guten Morgen“ sagen, denn in diesem fast immer gedankenlos hingesagten Gruß lag ein Wunsch, den ich dieser Frau gerade heute um nichts in der Welt entbieten wollte.

Auf der eiligen Suche nach einer neutralen Formel stieß ich, ach, wie freundlich meint's doch

unsere Sprache, nur auf gute Wünsche und rettete mich im letzten Augenblick in das mir ansonsten zuwidere Hallo, was der Hausbesorgerin, ungewohnt klang's ihr, einen leichten Ruck in ihren Körper versetzte.

In der Einfahrt zu meinem Büro traf ich einen Kollegen, der mich „Wie geht's?“ fragte. Es war nicht das auch bei uns schon so gängige „How do you do“, das keine Antwort verlangt, jedoch ein Tag der

Wahrheit, wie ich ihn gerade beging, brachte mit sich, daß ich bei aller Knappheit, deren ich mich in meiner Antwort befleißigte, doch gute zehn Minuten mit ihr und dem Manne, der vermutlich ein „Danke, gut“ erwartet hatte, zubrachte.

Schweigen, auch das hatte ich von meinem Religionslehrer mitbekommen, kann der Lüge gleichkommen, also kam es schon beim ersten Telefongespräch des Tags zu einem Eklat. Eine Bekannte, die ich am Vortag im Theater getroffen und im Gedränge nur kurz gegrüßt hatte, rief nämlich komplimentheischend an und erkundigte sich, wie mir ihre gestrige, teuer in Paris erstandene Abendrobe gefallen habe. Als ich ihr schonungslos meine Meinung sagte, ging eine vieljährige Freundschaft in die Binsen.

Nun wählte ich, seit Tagen ging ich schon mit meinem Grimm schwanger, die Nummer des Abteilungsleiters im Rundfunk, der vor wenigen Wochen ein wirklich ausgezeichnetes, aber unbequemes Hörspiel aus meiner Feder mit einer fadenscheinigen Begründung abgelehnt hatte, sie lag mir noch im Ohr. Die Problematik sei zu stark und deprimierend dargestellt, die Hauptrolle fürs Publikum zu schwer. Ich sagte ihm unter Hinweis auf den soeben abrollenden Tag der Wahrheit, daß der Grund in Wirklichkeit unter anderem die allerdings nicht wegzustreichende Passage mit den mißbräuchlich verwendeten Dienstautos sei, die ihn geschockt habe, da nämlich sein unmittelbarer Vorgesetzter eben ein solches Dienstauto besitze und ihm, dem Hörspielonkel, ganz schön übelnehmen könnte, Aufmüpfiges dieser Art über den Sender gehen zu lassen.

In der Tonart ging's weiter, ich beantwortete Fragen wahrheitsgetreu, ich nahm nicht einmal zu Beschönigungen Zuflucht.

Die Notbremse des Aufwachens zog ich, als mein Direktor, Beifall erwartend, mir das Konzept für seine nächste Ansprache zeigte, ich fand mich schweißüberströmt in meinen Kissen und lobte die Nacht, die kein Tag, und unsere Umgangsform, die ohne viel Wahrheit war.

Ich duschte, es war erst eins, erleichtert legte ich mich wieder ins Bett. Und rasch schlief ich neuerlich ein, denn es gab ihn ja nicht, den Tag der Wahrheit, heute nicht und morgen nicht und glücklicherweise nie, und ich war noch einmal davongekommen.

Um zehn war Sitzung. Mit lauter heben honorigen Leuten.

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