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Der Testfall eines revolutionären Prinzips

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Der moderne Industriestaat des beginnenden „technotroni-sehen Zeitalters“ (Tcchnotronik = Maschine + Elektronik) hat mit einer Polizeiaktion von fast kriegsmäßigem Ausmaß seine Schlagkraft bewiesen. In der BRD wurde die Baader-Meinhof-Gruppe (genannt RAF — Rote-Armee-Fraktion) aus der Stellung geschossen. Die Cracks dieser militanten Elite der linken Linken sind arretiert. Die jahrelange Auseinandersetzung des Establishments mit dem Anti-Establishment wurde in eine Balance gebracht.

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Der moderne Industriestaat des beginnenden „technotroni-sehen Zeitalters“ (Tcchnotronik = Maschine + Elektronik) hat mit einer Polizeiaktion von fast kriegsmäßigem Ausmaß seine Schlagkraft bewiesen. In der BRD wurde die Baader-Meinhof-Gruppe (genannt RAF — Rote-Armee-Fraktion) aus der Stellung geschossen. Die Cracks dieser militanten Elite der linken Linken sind arretiert. Die jahrelange Auseinandersetzung des Establishments mit dem Anti-Establishment wurde in eine Balance gebracht.

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Angesichts des Todes schlug wieder einmal die Stunde der Wahrheit: Sozialistische, liberale und sonstige Publizisten, News-Manager und Polit-Jobber, die vorher im Vehikel des Unternehmens der RAF als Hilfs- und Begleitmannschaft mitfuhren, sprangen rechtzeitig vor der Todeskurve ab, wollen jetzt mit dieser „Diskriminierung der Linken“ nichts zu tun haben.

Angesichts der miesen Haltung derer, die am Ort der Katastrophe nicht mehr gesehen werden wollten, verdient die heißumstrittene Haltung des katholisierenden Bestsellerautors Heinrich Boll einige Achtung: Boll und Konsorten haben mit ihrer Varteuifelung des „CDU-Staates“ unzählige junge Menschen auf die Fahrbahn der Revolution gelockt, aber Boll stand bis zuletzt zur „Avantgarde der linken Linken“.

Ekelhaft waren, sind und bleiben jene Typen, die beim Lutschen der Süßfrüchte des Wirtschaftswunders die aufgeniascherlten Reportagen der Massenmedien von den Terrorakten der RAF genossen und die jetzt in dämlicher Erwartung des . nächsten derartigen Nervenkitzels und seiner Sensationen verharren; die Unmenschen in der Dämmerung am Rand der hellerleuchteten Szenerie der Revolution sind die widerlichsten Erscheinungen im Ganzen, jene Geilblüten, die das „Große Kotzen“ hervorrufen.

Der Typ des Revolutionärs

Die RAF rekrutiert ihre Kader nicht unter den Proletariern, den Kindermachern, ihren Söhnen und

Töchtern. Neben der Tochter des Pastors kämpft der Sohn des Staatsarchivars. Neben der früheren eifrigen Mitarbeiterin einer evangelischen Jugendorganisation der Student konservativer Herkunft und Anschauung. Diese Tatsache schok-kiert die Bürger, für die Linke ist es das Alibi: „Mit diesen Exzessen der Abkörnmlinge aus bürgerlichem Milieu haben wir nichts zu tun.“

Die Wahrheit ist: Revolution machen nicht die Proletarier, sondern die Exilierten, die Outsider der begüterten und intellektuellen Eliten des Establishments; jene Typen mit dem Januskopf, die Macht bekriegen, bis sie selbst die Macht in Händen haben. Dazu Ernst Jünger („An der Zeitmauer“): „Die Morgendämmerung wird zunächst empfunden, zunächst sichtbar auf den Zinnen der alten Massive; daher kommt es, daß die Aristokratie in ihren geistigen Repräsentanten den Umwälzungen vorausschreitet. Das kann den Eindruck des Mannes erwecken, der den Ast absägt, auf dem er sitzt.“ Revolution machten nacheinander: die Aristokraten vom Herzog von Orleans bis Lenin und nachher; Geistliche vom Bischof Talleyrand und dem Oratorianer Fauche bis zum Seminarzögling Stalin und späteren Theologen; Advokaten von Robespierre bis zu den Rechtsanwälten in der Fünften Kolonne der RAF; Kulakensöhne wie Trotzki und Söhne von Besitzbürgern. Hinterdrein erst marschieren die armen Teufel, die „Frischzellen“ der Eliten der Zukunft.

In seiner Geschichte der russischen Revolution beschreibt Trotzki dieses Phänomen: Wie es dem Schmied nicht gegeben ist, mit bloßen Händen glühendes Eisen anzufassen, so kann das Proletariat nicht mit bloßen Händen die Macht ergreifen; es braucht eine für diese Aufgabe geeignete Organisation. Die Kunst des Aufstands (Marx, Lenin) geht demnach von einer „richtigen Gesamtführung der Massen“ aus; von den wenigen Verschwörern, die sich schon auskennen auf dem Gebiet der „komplizierten und verantwortungsvollen Politik“ und die eine „elastische“ Orientierung befolgen.

Revolutionen brechen niemals aus, sie werden gemacht, und zwar nach bestimmten Methoden.

Die Methoden der Revolution

Die Revolution ereignet sich nicht erst in den Straßen, wenn sie schon von aufgeregten Menschen überschwemmt sind. Mobilgarden des Volkes, Partisanen aller Art und dergleichen sind nicht imstande, eine intakte und gut geführte Exekutive des Establishments niederaukämpfen. Ludwig XVI. verlor den Widerstand gegen die Revolution von 1789, als die Linienregimenter seiner Armee nicht länger bereit waren, neben der später von der Übermacht der Revolutionäre massakrierten Schweizergarde den Königspalast zu verteidigen. 1917 war es Großfürst Cyrill, ein Vetter des Zaren, der die berühmte Garde Equipage mit wehenden Standarten ins Lager der Revolution führte; nicht der filmisch illustrierte „Sturm auf das Winterpalais'“ brachte nachher die Bolschewiken an die Macht, sondern der Übertritt der Gamisonstruppen der Hauptstadt zu der zahlenmäßigen Minorität der Fraktion Lenins. Und es siegte 1918 in der nationalen Revolution der Tschechen nicht das Volk, sondern jene Truppeneinheiten, die zuerst als Assistenz-verbände der k. k. Regierung den Aufruhr zum Stillstand brachten und 14 Tage nachher an der Spitze des Umsturzes marschierten.

Die Erfahrung der sechziger Jahre bestätigt einmal mehr die Tatsache, daß es auf die Fittings zwischen den Massen und der zahlenmäßig schwachen Verschwörergruppe ankommt. Das heißt:

• Jede Revolution muß, wenn sie gelingen soll, imstande sein, die Massen davon zu überzeugen, daß die Revolution im Interesse der Massen gemacht wird, um so eventuell die Unterstützung der Massen zu gewinnen.

• Im übrigen ist die Revolution die Tat einer Mini-Minorität. Einer Minorität allerdings, in der sich jedes Mitglied von der Richtigkeit der verfochtenen Idee überzeugt hat und willens ;c;t, sich für die Realisierung unter allen Umständen, auch unter Lebensgefahr, einzusetzen.

Im Industriestaat werden Revolutionen nach den Methoden der Baader-Meinhof-Gruppe scheitern, solange das System in der Lage bleibt, die Produktivitätssteigerung in Gang zu halten und den Massen reelle Zusagen für Konsumverbesserungen in der Zukunft zu machen. Den Rest kann die intakte Exekutive besorgen.

Aber: Das Industriesystem mit seiner wachsenden Konzentration der Macht in den Händen der Eliten der Technokratie wird damit anfällig für „Palastrevolutionen“, wie ehedem das autokratische System das Feudalzeitaltems. Nicht der individuelle Terror und die persönliche Aufopferung exzentrischer Eliten bringt die Wende, sondern: die systematische Besetzung der technischen Stäbe und Clans des Industriesystems mit den Mitgliedern der revolutionären Verschwörung. Tatsache ist, daß nach dem Scheitern der „ersten Welle“ der Revolution der sechziger Jahre die nunmehr zum Teil bereits arrivierten jungenhaften Revolutionäre von damals in solche Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur eingesickert sind.

Im überorganisierten und überdifferenzierten Industriesystem erzeugt der revolutionäre Sieg der Massen anarchistische Verhältnisse, denen wahrscheinlich „Ordnungssysteme“ mit wenig individueller Freiheit folgen werden; dem gelungenen Putsch, der „Palastrevolution“ der

Intellektuellen im Industriesystem folgt keine Anarchie, sondern Autokratie.

Das Ziel der Revolution

Jede Revolution der Neuzeit fängt an mit dem Aufruhr der Literaten, die den „Mythos der Revolution“ ergreifend beschreiben. Mit jener nachher immer wieder verratenen Parole, die Georg Büchner 1834 in seiner „Ersten Botschaft“ im „Hessischen Landboten“ abdruckte: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“

Im Effekt bringt aber die Revolution nicht Frieden in die Hütten und Krieg in die Paläste; es übersiedeln zunächst die Sieger in die leergefegten Paläste des Ancien Regimes (oder sie bauen sich neue Traumvillen im Ausland). Die Wahrheit ist:

Nachdem die bürgerlichen Regisseure der Revolution von 1789 mit Hilfe der aufrührerisch gemachten Bauern die Aristokraten verjagt hatten, sanken die französischen Bauern in politische Bedeutungslosigkeit und in die gewohnte Armseligkeit ihrer Hütten zurück.

Und nachdem 1917 die Parole der Linken in Rußland: „Alles Land den Bauern“ gezogen hatte und die ganze Macht in den Händen der bolschewikischen Minorität gelandet war, verloren die Bauern selbst den vom Zarismus eingeräumten Landbesitz, wurden sie einrückend gemacht, als Landarbeiter in die Kolchosbrigaden.

Ja es behauptet der unlängst von der SPÖ als Kronzeuge gegen den Kapitalismus nach Wien eingeladene Linksliiberale John K. Galbraith, für den heutigen Arbeitnehmer in der freien Welt des Westens sei es gleichgültig, ob er in einem verstaatlichten Betrieb tätig ist oder in einem des „privaten Kapitalismus“. Wie es aber beim Umgang des Staatskapitalismus mit „Arbeitermacht“ zugeht, das beweisen die Vorgänge um die Fusionsmaßnahmen in der verstaatlichten Industrie Österreichs.

Die Mutter Andreas Baaders erklärte: sie billige nicht die Gewalt, die die Gruppe ihres Sohnes ausübte; eher billige sie die Motivation. Einmal, vielleicht schon zweimall hat der Hahn gekräht im Industriesystem. Hoffen wir, daß Parteien, Verbände, Kirchen in der Krise des Systems etwas einfällt, was mehr ist als Kosmetik an der Oberfläche. Indessen: Auch das bloße Image dieses Systems ist verdammt übel:

Während in Deutschland junge Intellektuelle, denen alte Männer den Verstand verwirren, angesichts der Konfrontation der Unkultur und der Unmenschlichkeit der Reichen und Superreichen mit chaotischen Unzulänglichkeiten die Pistole ziehen und feuern; während in Vietnam junge Menschen, die ihre Vorstellungen vom Kommunismus realisieren möchten, auf andere junge Menschen feuern, die sich mit aller Gewalt wehren, unter den Kommunismus au geraten; und während, wie die Wissenschaftler vorhersagen, noch keine begründete Hoffnung besteht, die Katastrophe in der Welternährungs-lage zu bannen, ereignet es sich in dieser Stadt Wien und in Österreich, daß Herr Curd Jürgens ein Abschiedsessen für 50.000 Schilling gibt, um mit einem erlesenen Ensemble einen angeblich kurzweiligen ehelichen Seitensprung in Szene zu setzen; daß der Generalkonsul eines Aus-landsstaates, dessen Name zu nennen die internationale Courtoisie verbietet, am Vorabend der Olympischen Spiele 1972 im exkaiserlichen Schloß Kiesheim eine Mas-senausspeisung der Hautevolee für den Preis von 150.000 Schilling zubereitet und daß in den Massenmedien eine volks-verdummende Reportage über das üppige Leben der unkultivierten Reichen und Superreichen von gestern und heute stattfindet, die den Konservativen zu der Frage Anlaß gibt: quo usque tandem abutere patientia nostra?

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