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Der Tod einer Stadt

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Als Neville Chamberlain am 3. September 1938 im Radio die Kriegserklärung der Engländer gegen das Dritte Reich verlas, beklagte er, daß Adolf Hitler ihm, Chamberlain, gegenüber sein Wort gebrochen habe.

Das sei doch etwas lächerlich als Kriegsanlaß, meinte damals der junge Schriftsteller Stephen Spender. Und doch war es der wahre Grund. Spender schreibt in seinen Memoiren, daß die Befriedungspolitik gegenüber Hitler nicht gescheitert sei, weil Großbritannien und Frankreich die Beschwichtigung nicht mehr gewollt hätten - dem Münchner Abkommen hatten sie ja zugestimmt. Nein. Es war ihnen nur klar geworden, daß man mit Hitler keine Verträge machen konnte: „Er würde immer wieder ,letzte Forderungen' stellen, die anderen schon erfüllten .letzten Forderungen1 folgten, und so die Position derjenigen, die seinen Ansprüchen entgegenkamen, immer weiter schwächen...”

Soweit sind die Unterhändler Lord Owen und Stoltenberg noch nicht, daß sie dies erkannt hätten: Mit den Serben kann man keine Verträge machen, der Bruch von Vereinbarungen gehört bei ihnen zum gebräuchlichen Mittel der Politik.

Zarko Petän, der slowenische Autor und Regisseur, hat mir einmal in einem Gespräch gesagt, er führe diese Mentalität auf die Tatsache zurück, daß im langen Kampf gegen die türkische Unterdrückung jedes Mittel zum Überleben für brauchbar erklärt wurde. Die Bereitschaft zum Wortbruch sitze nun im Stammhirn.

Aber ob die Serben sich von irgendwelchen Bergen rund um Sarajewo zurückziehen, ist gar nicht mehr so entscheidend. Die NATO hat mit ihrem Kommunique in Brüssel klar gemacht, daß sie, wenn sie eingreift, nur eingreifen werde, wenn die Serben noch weiter vorrücken. Und das ein Jahr nach dem Beginn der Belagerung von Sarajewo.

Dort sterben täglich 15 Menschen und etwa 20 werden verwundet. In Sarajewo warten die Menschen auf jemanden, der nicht kommt. Das ist das Thema von Becketts „Warten auf Godot”.

Das Stück wird von der amerikanischen Publizistin Susan Sontag in der Stadt inszeniert. Susan Sontag meint, daß Sarajewo das San Francisco des östlichen Europa gewesen sei: Kosmopolitisch und sophi-sticated. Nicht zuletzt deshalb werde es jetzt zerstört.

In Sarajewo begann das 20. Jahrhundert - und es endet dort. Diese nicht mehr neue These verficht auch Susan Sontag. Und sie erweitert sie etwas: In Sarajewo, so könnte man sagen, beginnt auch das 21. Jahrhundert: mit einem Blick auf das Bild, wie das 20. Jahrhundert war.

Die Zukunft hat schon begonnen.

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