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Der Tod in Wiege und Gitterbett

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SIDS (Sudden Infant Death Syndrome) lautet die Fachbezeichnung für ein Phänomen, das man der Luftverschmutzung anlastet: den plötzlichen Tod schlafender Kleinkinder.

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SIDS (Sudden Infant Death Syndrome) lautet die Fachbezeichnung für ein Phänomen, das man der Luftverschmutzung anlastet: den plötzlichen Tod schlafender Kleinkinder.

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Das ist wohl für viele Eltern eine Horrorvision: Sie legen ihr gesundes und vergnügtes Baby am Abend zum Schlafen — und finden es am nächsten Morgen tot in seinem Bett. Gestorben ohne vorerst erkennbare Ursachen oder Symptome.

Oft genug wird dieser Alptraum grausame Wirklichkeit: Denn solcher Tod auf leisen Sohlen ereilt nach Schätzungen der Ärzte in Österreich rund 270 Babys jährlich (das sind zwei bis drei Promille aller Neugeborenen). Obduktionen brachten bis jetzt meist keine genaueren Aufschlüsse.

In der Bundesrepublik Deutschland wird die jährliche Zahl der SIDS-Todesf alle auf etwa 2.000, in Großbritannien auf doppelt so viele geschätzt. In den USA fallen durchschnittlich 20.000 Kleinkinder pro Jahr diesem rätselhaften Sterben zum Opfer.

SIDS ist eine der häufigsten Todesursachen bei Babys und trifft sie meist, bevor sie ein Jahr alt sind. Jahrelang wurde in zahllosen in- und ausländischen Fachpublikationen über die Ursachen gerätselt, ohne Erfolg. Vor allem in der Bundesrepublik und in den USA vermuten die Ärzte zunehmend einen direkten Zusammenhang zwischen Umweltverschmutzung und dem plötzlichen

Kindestod.

Jene Schadstoffe, meinen sie, die, in Wasser gelöst, den schon hinlänglich bekannten sauren Regen bilden, sind teilweise auch für die Babys lebensbedrohend. Die Säuglinge, die noch nicht über ein ausgeprägtes Immunsystem verfügen, reagieren auf diese Giftstoffe verstärkt mit Reizungen und Infektionen.

Beispielsweise gehören dazu die Stickoxide aus den Autoaus-puffen: Sie beeinträchtigen nachweislich die Atmung der Pflanzen und bewirken auch beim Menschen eine erhöhte Gefahr von Erkrankungen der Atemwege. Oder die Schwefeldioxide aus den Industrieanlagen: Bei Spitzenbelastungen der Luft (Smog) leiden vor allem Säuglinge und ältere Menschen. Der amerikanische Mediziner Toke Hoppen-brouwers stellte eine eindeutige Zunahme von SIDS-Fällen in Kalifornien nach Höchstwerten der Luftverschmutzung fest.

Dabei braucht gerade das Babygehirn am Anfang, wo es noch nicht voll ausgebildet ist, mehr Sauerstoff als beim Erwachsenen. Zu viele Schadstoffe haben unter Umständen auch katastrophale Auswirkungen auf Lunge oder Atemwege der Kinder. Schleimhautreizungen oder -entzündun-gen können zum Verschluß der Nase führen — und letztlich zum Tod durch Ersticken. Vor allem in Deutschland wurde bei SIDS-Fällen überwiegend eine Erkrankung der Atemwege festgestellt.

In Graz ging ein Forscherteam bei seinen Arbeiten zum Phänomen SIDS über diese Feststellungen hinaus. Seit sechs Jahren versuchten Ärzte am Physiologischen Institut (Professor Thomas Kenner) in Zusammenarbeit mit der dortigen Universitätsklinik für Kinderchirurgie (Professor Ronald Kurz), SIDS in einem Forschungsprojekt des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung auf die Spur zu kommen. Mit Erfolg.

Da die meisten Todesfälle im Schlaf passieren, ging das Team von einer Beobachtung des Schlafverhaltens der Säuglinge aus. In einer Langzeitstudie stellten sie folgendes fest: Kleinkinder atmen während der Schlafphasen anders als im wachen Zustand. Ein Anstieg des Kohlendioxides oder Sinken des Sauerstoffes beispielsweise bewirken im wachen Zustand eine verstärkte Atemtätigkeit als Ausgleich, im Schlaf jedoch nicht.

Weiters registrierten sie bei einigen Säuglingen eine extrem lange Atempause bzw. vermehrte Atempausen. Oft holen solche Babys bis zu dreißig Sekunden keine Luft. Dazu haben sie meist auch sonst ein Problem: „Normale" Neugeborene verfügen über eine Fähigkeit, die Erwachsene nicht mehr haben: Sie können gleichzeitig saugen, schlucken und atmen. Kindern mit unnatürlichem Atemverhalten fehlt meist auch diese Koordinationsfähigkeit. Dieser Mangel des richtigen Atmens, verbunden mit der Eigenschaft aller Kleinkinder, im Schlaf auf Kohlendioxidanstieg bzw. Sauerstoffabfall nicht zu reagieren ist nach Ansicht von Professor Kurz mit großer Wahrscheinlichkeit der Schlüssel zur Lösung des Rätsels SIDS.

Um die Atemfunktion zu normalisieren und damit einen Risikofaktor auszuschalten, entwik-kelte das Team eine Therapiemöglichkeit. Ein sogenannter

Atemgürtel, der einfach um den BauchdesBabysangelegtwird.re-gistriert seine Atmung bzw. auftretende Störungen. Ungewöhnliches Verhalten kann somit verläßlich festgestellt werden. Das Optimum an erster Hilfe wäre daher für die Ärzte eine Art Vorsorgeuntersuchung, um so potentielle Risikokinder rechtzeitig zu erkennen. Denn früh genug festgestellt, können SIDS-gefährdete Babys auch medikamentös behandelt werden. Bis jetzt erfolgreich mit Euphyllin, einem Mittel, das auch bei asthmakranken Erwachsenen verwendet wird. Es stimuliert, so Professor Kurz, das Atemzentrum und bewirkt eine deutliche Verbesserung und Verkürzung der langen Atempausen. Bis jetzt registrierten die Ärzte bei den behandelten Babys keine Nebenwirkungen.

Unterstützt wird diese Therapie — die Atemgürtel sind noch nicht ganz fertig entwickelt und werden nur in der Klinik angewendet — auch durch andere technische Geräte. Monitore zur Überwachung von gefährdeten Kindern sind schon gängige „Hausmittel" der Eltern. (Die Krankenkasse übernimmt dabei jedoch nur einen Teil der Kosten).

Obwohl Professor Kurz zugibt, mit der Entdeckung der Atmungsstörungen und der Entwicklung einer Therapie durch das Forscherteam SIDS keineswegs ein für allemal beseitigt zu haben, glaubt er doch, die wirkliche Ursache gefunden zu haben. Denn es kommen auch noch einige auslösende Faktoren dazu, beispielsweise Infektionen der Atemwege durch Schadstoffe in der Luft.

Auch für ihn gibt es jedenfalls einen direkten Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und dem plötzlichen Kindestod.

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