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„Der träumende Mund“

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Elisabeth Bergner wird also am 22. August dieses Jahres 75 Jahre alt. Wirklich 75? Diejenigen, die sie früher kannten, in ihrer ganz großen Zeit, ja selbst diejenigen, die sie heute kennen, können es kaum glauben. Als sie noch jung war, glaubte man nicht, daß sie je alt werden könnte. Man glaubt es auch heute noch nicht.

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Elisabeth Bergner wird also am 22. August dieses Jahres 75 Jahre alt. Wirklich 75? Diejenigen, die sie früher kannten, in ihrer ganz großen Zeit, ja selbst diejenigen, die sie heute kennen, können es kaum glauben. Als sie noch jung war, glaubte man nicht, daß sie je alt werden könnte. Man glaubt es auch heute noch nicht.

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Als sie jung war... Ich lernte sie 1920 in München kennen. Damals war sie „schon“ dreiundzwanzig und wirkte doch wie sechzehn oder siebzehn. Sie spielte in den alten Kammerspielen, einem schlauchartigen Theater in Schwabing. Sie war der Geheimtip vieler Theatergänger. Aber sie war keineswegs der Star der' Kammerspiele. Das war die unbeschreiblich schöne Frau des Direktors Falckenberg, Sibylle Binder. Übrigens auch eine vorzügliche Schauspielerin. Aber da war doch ein gewisser Unterschied ...

Diejenigen, 'die für das Theater lebten und starben, sagten Elisabeth Bergner eine große Zukunft voraus, wenn auch nicht das, was bald darauf geschehen sollte. Dabei wären die Jahre zuvor eher mühselig gewesen. Zum Theater ging sie überhaupt nur, weil die Eltern, gut bürgerliche Leute aus Wien, sie unbedingt verheiraten wollten. Das wollte nun „Liesl“ — so wurde sie allgemein genannt, damals und auch später — durchaus nicht. Sie sagte, sie wolle zum Theater gehen, was sie eigentlich auch nicht wollte, aber es schien der einzige Ausweg.

Die Lehrer hielten sie für mäßig begabt. Der erste Direktor, der sie engagierte, “der des Innsbrucker Stadttheaters, hielt sie für durchaus unbegabt. Er zahlte ihr zwar die Gage, ließ sie aber kaum auftreten. Alfred Reucker, Direktor des Stadttheaters Zürich und der sehr kleinen Pfauenbühne, die später umgetauft und das Schauspielhaus wurde, suchte sie in Innsbruck auf. Er bekam sie auf der Bühne nicht zu sehen, sie sprach ihm in ihrem möblierten Zimmer vor. Er war nicht gerade hin und her gerissen, holte sie aber doch nach Zürich.

Und da war sie dann auch ein Erfolg. Nicht so sehr als Schauspielerin, sie spielte wenig und nicht immer die Rollen, die sie hätte spielen sollen, sondern als ... Persönlichkeit. Klein, zierlich, mit weißem Etonkragen und einer Lavalliere-Krawatte, durchstreifte sie die Straßen zum Entzük-ken der jungen Männer und auch der Frauen. Man wußte nicht recht: war sie ein Mädchen oder ein Knabe? Man wußte natürlich, daß sie ein Mädchen war, aber sie wirkte eher knabenhaft. Das war ihr außerordentlicher Charme: die Art, wie sie sich bewegte, das Zögern in ihren Worten — das alles fanden die Menschen hinreißend.

*

Ihr Durchbruch auf der Bühne erfolgte dann in einer Aufführung von „Wie es euch gefällt“, übrigens der ersten seit fünfzig oder sechzig Jahren in deutscher Sprache. Als Rosalinde — in der. sie ja einen Knaben spielen muß — brachte sie Zürich zur Raserei. Sie ging nach Wien, wo sie kein besonderes Aufsehen erregte, und dann holte Otto Falckenberg sie nach München. Seine Mitarbeiter waren nicht überzeugt von ihr, sie selbst war nicht überzeugt von sich. Wann immer sie eine neue Rolle spielen mußte, verfiel sie in Angstzustände, erbrach, die Premieren waren immer in Frage gestellt, wenn sie auch trotzdem stattfanden.

Ich erinnere mich an eine Neuinszenierung des „Sommernachtstraums“ durch Falckenberg. Die Generalprobe war eine Katastrophe — für die Bergner. Alle glaubten, Falckenberg werde die Rolle des Puck umbesetzen. Der dachte nicht daran. „Morgen ist Premiere!“ Und am nächsten Abend war die Bergner durchgesetzt. Nie zuvor, so erklärten Fachleute, war der Puck derart grazil, charmant, derart hinterlistig-verschmitzt gespielt worden, nie so anmutig, nie so amüsant. Und wenn sie Shakespeares Worte sprach ... aber davon später.

Sie bekam, eben weil die Frau des Direktors die Konkurrentin war, nicht allzuviel zu spielen. Sie ging vorübergehend ans Residenztheater, wo sie, was wenige heute wissen, die erste Helene gelegentlich der Uraufführung des „Schwierigen“ von Hugo von Hofmannsthal war. Dann holte Reinhardt sie nach Berlin.

Sie spielte noch einmal ihre Shakespeare-Rolle, die Rosalinde und die Viola, sie spielte „Fräulein Julie“ und die „Heilige Johanna“ Sie war ein für Berliner Verhältnisse außerordentlicher Erfolg. Denn in Berlin gab es immerhin Käthe Dorsch, um diese Zeit gerade durchgesetzt, Helene Thimig, die eigentlich alles spielen konnte, was die Bergner spielen konnte oder wollte; und die Thimig war die Frau des Direktors Max Reinhardt. Um jede Rolle mußte sie kämpfen. Zum Beispiel um die „Heilige Johanna“, oder um Alkmene in Giraudoux' „Amphi-tryon“.

Es war sicher nicht nur außerordentliche Konkurrenz, die sie in Berlin vorfand und die sie ein bißchen verärgerte und ermüdete. Warum sollte sie klassische Rollen spielen an Theatern mit wechselndem Spielplan wie bei Reinhardt und auch Barnowski, wenn sie es sich so viel leichter machen konnte? Und wenn sie so viel mehr Geld verdienen konnte! Den Ausschlag gab wohl eine Inszenierung Max Reinhardts, in der sie die Julia spielte. Reinhardt war nicht von ihr als Julia überzeugt; die Produktion, die unendlich viel Vorschußlorbeeren eingestrichen hatte, wurde ein Durchfall.

Und Liesl spielte von nun an nur noch oder fast nur noch leichte Boulevardkomödien, en suite, hundertmal, zweihundertmal hintereinander und bekam nach der Mas-sary und der Dorsch die höchsten Gagen, die es in Berlin je gegeben hatte. Sie war immer reizend, sie war immer charmant, aber ihre Freunde und ihre Kritiker konnten nicht umhin zu bedauern, daß sie nun nicht mehr spielte, was ihres Talents würdig gewesen wäre.

Hingegen machte sie vorzügliche Filme, und vor allem und nach einiger Zeit nur noch mit einem Filmregisseur, den man für begabt, aber nicht für allzu begabt hielt, einem gewissen Paul Czinner. Die beiden wurden ein Paar. Sie wuchs an Czinner, daran ist gar kein Zweifel, er verlangte von ihr das äußerste und sie verlangte von ihm das äußerste. Er wurde einer der größten Filmregisseure des deutschen Films. Und Werke — Stummfilme übrigens — wie der „Geiger von Florenz“ oder später „Der träumende Mund“ waren in ihrer Art Klassiker.

*

Liesl verdiente eine Menge Geld und niemand verstand so recht, warum sie eines Tages — das war 1932 — erklärte, Berlin verlassen zu wollen und nach London zu gehen. Sie sah eben, und darin erwies sie sich als wesentlich gescheiter als ihre Theater- und Filmdirektoren, daß der Aufstieg Hitlers unaufhaltsam sei. Und sie konnte sich nicht recht vorstellen, wie sie, die österreichische Jüdin, in einem von Hitler regierten Land weiterarbeiten wollte. — Sie lernte also Englisch. Sie lernte es Tag für Tag. Aus der arrivierten Schauspielerin wurde eine gelehrige Schülerin. Ein- oder zweimal kam sie noch nach Berlin zurück, weil man sie unaufhörlich anforderte. Sie spielte mit Werner Krauß in einer denkwürdigen Inszenierung von „Gabriel Schillings Flucht“ und mit Fritz Kortner den „Kaufmann von Venedig“. Die Kritik lobte Kortner über den grünen Klee. Elisabeth Bergner wurde ein wenig zerzaust, teils weil die Portia nicht zu ihren besten Rollen gehörte, teils, weil man ihr die Emigration nach England, die niemand für sinnvoll hielt, irgendwie als Untreue auslegte und übelnahm.

Die Bergner war verstimmt. Sie erklärte dem Direktor des Staatstheaters, sie beabsichtige nicht, die Rolle weiter zu spielen, sei aber natürlich bereit, noch so lange zur Verfügung zu stehen, bis eine andere Schauspielerin die Rolle geprobt habe und übernehmen könne. Fritz Kortner, zu dessen starken Seiten niemals der Takt gehörte — er war zufällig anwesend —, meinte, das sei noch das beste so, denn: „Frau Bergner, die Leute wollen Sie doch offenbar nicht sehen!“ Eine Äußerung, die sie in ihrem Beschluß bestärkte.

Als sie aber nach zehn Tagen ausschied und eine andere Schauspielerin ihre Rolle übernahm, blieb das bis dahin ausverkaufte Staatstheater leer. Die Leute hatten die Bergner sehen wollen — nicht unbedingt Kortner.

Sie lernte überraschend schnell ein akzentfreies Englisch. Sie machte die Bekanntschaft des bekannten Dichters Sir James Barrie, des Schöpfers der Märchenfigur „Peter Pan“. Für die war die Bergner — eben das knabenhafte Mädchen — wie geschaffen, sie war „Peter Pan“ par excellence. Und er schrieb für sie ein Stück „Escape me never“, in dem sie so ein knabenhaftes Mädchen spielen mußte und das ein Sensationserfolg in London und später auch in New York wurde. '

Zu ihren enthusiastischsten Fans gehörte die Königin von England, die es durchsetzte, daß sie schon nach fünf Jahren naturalisiert wurde — damals wie auch heute eine absolute Seltenheit. Sie drehte einen Film nach Shakespeares „Wie es euch gefällt“. Als Partner verlangte sie einen bis dahin recht unbekannten jungen und bildhübschen Schauspieler, den man ihr schließlich nicht ohne Zögern konzidierte: Lawrence Olivier.

Im Krieg ging sie in die Vereinigten Staaten, was man ihr in London verübelte und was ihr insbesondere andere Emigranten als eine Art Treulosigkeit auslegten.

Als sie nach dem Krieg zurückkam, hatte sie ein paar schwierige Jahre. Dann machte sie Tourneen in Deutschland, zuerst als Bibelvorleserin, später als Vorleserin der von ihr im Film gespielten „Fräulein Else“. Karl Heinz Stroux holte sie nach Düsseldorf, Kurt Raeck nach Berlin. Überall Erfolge wie in den guten alten Zeiten.

Es ist schwer, ihren Erfolg zu definieren. Früher, ja, früher, da war sie das junge Mädchen, fast noch ein Kind, die unschuldige Schuldhafte, die kleine Person — so dachte sich Wedekind wohl seine Lulu. Aber sie war eben nicht nur -ein Typ. Da war ihre Sprache, übrigens nie ganz frei von einem gewissen wienerischen Akzent, oder sollte man sagen von einer Sprachmelodie? Namentlich, wenn sie Shakespeare sprach wurde diese Sprache zu einer Melodie, die gewissermaßen von einem Ende der Welt zum anderen führte. In ihren Sätzen war eben die ganze Welt enthalten, in ihren Zwischentönen alles spürbar, alles erahnbar. Dazu die kleinen Gesten, die immer irgendwo in der Luft hängen blieben, die furchtsamen Schritte, das plötzliche Innehalten. Wenn es je einen Gegensatz zu den großen pathetischen Schauspielerinnen gegeben hatte: hier war er. Eine Schauspielerin, mit der das Publikum nicht zuletzt deshalb mitging, weil es Angst um sie hatte, weil es ihre Angst — die verließ sie bis zuletzt nicht — irgendwie spürte. Ein weiblicher David, der das Publikum Goliath besiegt.

*

Und nun, heute? Eine alte Dame? Keineswegs. Ebenso wenig ein alterndes Mädchen. Man kann sie heute ebensowenig einreihen wie damals, als sie aufkam. Sie ist unvergleichbar. Sie ist einmalig gewesen und sie ist es geblieben. Die Duse spielte in ihren letzten Jahren oft die Nora. Aber sie machte sich keine Mühe, eine Perücke aufzusetzen oder gar ihr Haar färben zu lassen, sie spielte die Rolle mit weißen Haaren und man hatte diese weißen Haare eine Minute nach ihrem ersten Auftreten vergessen. Bei der Bergner war es immer so und ist auch jetzt so: Man vergißt ihr Alter, wenn sie auf der Bühne steht. Nein, man vergißt überhaupt alles, wenn sie auf die Bühne kommt.

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