6908536-1980_52_17.jpg
Digital In Arbeit

Der Traum des Balthasar

Werbung
Werbung
Werbung

^Balthasar!" rief es, „Balthasar, steh auf!" Balthasar rieb sich die Augen und sah den Engel, einen großen, schlanken, weißhäutigen Engel, so wie ihn alle kennen. Kennen sie ihn alle? Wer von den Lebenden sah schon einen Engel? Balthasar sah ihn und wurde grau im Gesicht. Er zitterte.

„Fürchte dich nicht, Balthasar!" sagte der Engel freundlich. Fast immer sagen die.Engel „Fürchte dich nicht!" Aber hat es einer der Lebenden schon mit eigenen Ohren vernommen? Bai-■ thasar hörte es, und ein ungläubiges Lächeln ließ ihn die runde Lippe lüften.

„Ich habe einen Auftrag für dich", fuhr der Engel fort. „Steh schnell auf!"

Balthasar warf die braune Wolldecke ab und erhob sich. Der Engel betrachtete ihn. „Du bist groß und stark. Dein Haar ist dick und kraus, deine Hände -zeig sie! -ja, sie sind gut. Du mußt noch die Nägel säubern. Aber nun komm. Wir haben keine Zeit zu verlieren."

„Meinen Mantel!...quot;

„Du brauchst ihn nicht." Der Engel ergriff ihn am Arm und schob ihn durch den schmajen Gang, der zwischen den rechts und links und übereinander aufgestellten Betten zum Ausgang führte.

„Ich muß noch vierzig Cents zahlen für die Nacht!" Balthasar fiel es schreckhaft draußen ein ... „ ... und die Nudeln von gestern abend." Aber noch ehe er in die Tasche langen konnte, war er schon emporgehoben und flog mit dem Engel davon.

Wahrhaftig, er flog. Manchmal war er - im Traume - von einer hohen Treppe gesprungen, war mit Armen und Beinen durch die Luft gerudert und immer um ein geringes über den Stufen geblieben, bis er schließlich mit dem sanften Aufsprung einer Katze unten gelandet war. Kein Flug über den Ozean konnte so entzücken wie diese ehrlich geflogenen dreißig oder vierzig Schritte! Denn es war Lüge: Die Menschen selbst können nicht fliegen! Kein Mensch war je geflogen, wie jetzt Balthasar flog.

Freilich, der Engel half dabei. Er hatte ihn an der Hand gefaßt. Aber Balthasar spürte da weder Druck noch Zug. Ob ich ihn loslassen kann? dachte er eine Sekunde lang.nbsp;i

Aber da sah er unter sich die dunkle Erde und verbannte seinen Gedanken.

Es ging auch schon erdwärts. Er spürte es genau. Dieses Gefühl kannte er aus seinen Träumen. Wie gut, daß er es kannte! Er würde nicht straucheln beim Niedergehen.

„Folge mirquot;, sprach der Engel und ging voraus, ein Stück Kiesweges, wie sie durch die Gärten der Reichen laufen, dann ein paar Stufen hinan und durch ein Portal, das sich lautlos auftat und wieder schloß. Balthasar sah sich in einem hohen Saal. Aber der Saal war leer. Nein - da saßen zwei Männer in einer Ecke. Männer? Ah! Große Herren! Fürsten oder Präsidenten, oder Könige gar.

Er stand und staunte.

„Balthasar!quot; rief der Engel streng. Er war schon um etliche Schritte vor aus, und Balthasar beeilte sich, ihn wieder einzuholen. Die beiden Männer in der Ecke erhoben und verneigten sigh; einmal gegen den Engel, das andere Mal - gegen ihn.

Balthasar war sehr verlegen und machte eine mißglückte Verbeugung.

„Nimm das!quot; Der Engel wies auf einen Sessel, über den ein weißes, langes Hemd gebreitet war, das seidig glänzte. Darunter lugte ein roter bestickter Mantel hervor.

Balthasar sah den Engel mit krauser Stirn an.

„Warum quälst du mich?" fragte er leise.

Der Engel sah ihm in die Augen und lächelte freundlich. Er sagte nichts, aber sein Blick fiel so gütig auf ihn, daß er plötzlich in der Mittagssonne zu stehen vermeinte. Warm wurde ihm, wohlig warm. Das wollene Trikot kratzte auf einmal auf der Haut. Er streifte es kurz entschlossen über den Kopf und ging auf den Sessel zu, nicht ohne noch einmal ungläubig den Engel anzusehen. Der nickte.

Da warf er das weiße Hemd über sich, das wie ein Meerwind seine dunkle Haut berührte, knüpfte die rote Kordel um den Leib, zog die schönen Sandalen an und legte den Mantel um die muskelprangenden Schultern. Dann wendete er sich langsam zu den anderen. Er sah, daß sie sich verneigten. Da verneigte auch er sich tief und fühlte, wie ihm eine dicke Träne auf seine große Zehe fiel.

Als er dann wieder aufsah, war das Portal geöffnet. Draußen hörte man Pferde schnauben und Zaumzeug leise klirren. Sie schritten zum Ausgang und sahen., daß sie erwartet wurden. ,

„König Kaspar!" rief der Engel und schob den einen der beiden Könige sanft hinaus. Eine Gruppe löste sich aus der Menge und empfing ihn mit gekreuzten Armen und auf und nieder pendelndem Rücken. Sie führte ihm ein feurig tänzelndes Pferd zu.

„König Melchior!" rief der Engel, 'und Balthasars Nebenmann trat hinaus. Eine kleine Karawane mit käuenden Kamelen und Dromedaren bewegte sich ihm entgegen. Alles ging leise und feierlich zu. Der Mond verbreitete eine geisterhafte Helle. Wo war er? Aber Balthasar, der einen Blick zum Himmel wagte, konnte ihn nicht entdecken. Er sah nur einen großen, hellen Stern -wohl den Morgenstern - am Himmel stehn. Wenn man ihn genauer ansah ...

„König Balthasar!" ertönte die Stimme des Engels. Balthasar erschrak.

„Komm", sagte der Engel und legte einen Reif auf sein wolliges Haar. „Zieh mit den anderen, immer dem Stern nach. Ihr könnt den Weg nicht verfehlen." Dann winkte er einer dritten Gruppe und schob Balthasar sanft hinaus.

Guter Gott, dachte dieser und begann zu zittern. Er blieb auf der Treppe stehen und ließ die Leute herankommen. Sie trugen Turbane und hohe weiße Mützen, wie die Köche sie zu tragen pflegten. Ein riesiger Bursche mit so einer Mütze ging an ihrer Spitze. Kannte er ihn nicht? Balthasar erstarrte. War das nicht der Koch, der ihn vorgestern etliche schmerzliche Male mit dem großen Löffel über den Kopf geschlagen hatte, weil er ein Stückchen Leber in die Backe geschoben hatte?

Jetzt trat der Kerl an die unterste Stufe, machte eine Verbeugung.

„König Balthasar, eile dich!" rief da von hinten der Engel. Und Balthasar beschloß zu glauben, daß er träumte, raffte Hemd und Mantel und schritt durch die kurze Gasse seiner Begleiter. Im Vorübergehen sah er noch Jim, den Hafenarbeiter, und Jesse, den Barbier, und wollte ihnen zunicken. Aber die schienen ihn nicht zu erkennen. Er bestieg den Sattelsitz unter dem Baldachin, den ein mächtiges Kamel trug, schwankte fürchterlich einmal nach vorwärts, einmal nach rückwärts, sah die anderen sich in Bewegung setzen und trieb auf den Wellen eines rätselhaften Glückes in der Kabine des Wüstenschiffes dahin...

Meine alte Mutter müßte das sehen, dachte er. Und der gallige Lehrer, der mir so oft Tatzen zuteilte. Und die sanfte junge Helen. Und der patzige Kerl, dem ich neulich den Wagen nicht gut genug wusch. Und der und der und die und die. Balthasar wußte so viele, die es hätten mit ansehen müssen.

Er sah an sich herab. Bin ich's denn? Er hob das seidene Hemd, denn ihm fiel seine alte und ausgefranste Hose ein. Da war sie. Er schlug sie zwei-, dreimal nach oben um, bis fast an die Kniekehlen. Wo mochte die seltsame Reise hingehen!

Er sah hinaus nach seinen Begleitern. Sofort trieb einer sein Reittier neben ihn und reichte ihm ehrerbietig eine Flasche. Balthasar nahm einen feurigen Schluck und gab die Flasche zurück. Du hättest sie behalten sollen, dachte er sogleich. Nun - er konnte wohl bald wieder danach fragen.

Der Begleiter war indessen wieder zurückgeblieben, und Balthasar fiel ein, daß er vergessen hatte, sich nach dem Ziel des Weges zu erkundigen. Ob nicht eine Tafel, ein Meilenstein kommen würde, die Aufschluß gäben? Er nahm sich vor, besser achtzugeben. Inzwischen schien die Sonne aufgegangen zu sein, so hell war es. Aber Balthasar irrte. Es war der Stern, dem sie folgten; er sah es erstaunt. So einen Stern hatte er nie gesehen. Tief und strahlend schien er in der Luft vor ihnen herzuschweben, bald zum Greifen nahe, wie eine Bogenlampe.

Plötzlich stand sein Kamel. Alle vor ihm standen. Balthasar blickte um sich, aber da war schon der Begleiter von vorher neben ihm. Auf seinen Zuruf hin ging das Kamel in die Knie, und Balthasar - was blieb ihm übrig - stieg ab.

Da stand er nun.

Wo war der Engel? Balthasar schaute verzweifelt nach ihm aus, aber er konnte ihn nicht entdecken. Immerhin schien der Mann mit der Flasche zu wissen, was zu tun sei. Er brachte gerade ein silberbeschlagenes Kästchen herbei, sagte ernst „Komm, König!" und bahnte ihm eine Gasse durch die Haltenden. Balthasar folgte ihm wie ein Lamm.

Da aber sah er wieder die beiden Könige beisammen stehen, und ein Stein fiel ihm vom Herzen. Sie schienen schon auf ihn zu warten. Er trat freudig bewegt zu ihnen und verneigte sich würdig. Sie taten ihm Bescheid. Und dann geschah es.

Plötzlich sah er das große Straßenschild und den Namen, den es trug. Er sah das alte Haus mit dem offenen Stall, sah den Stern darüber schweben, den Ochsen, den Esel, die Hirten, den Mann, die Engel, die Jungfrau und die Krippe und - er fuhr sich sofort an den Mund - stieß einen Schrei aus. Nichts begriff er, nichts. Nur das eine, daß er, Balthasar Tolan, neununddreißig Jahre alt, Gelegenheitsarbeiter und Junggeselle, erleben durfte, was keiner der jetzt Lebenden erleben konnte; dabeizusein, wenn das Licht der Welt, die Geburt des göttlichen Kindes, des Erlösers für alle, gefeiert wurde. Eine ungeheure Erregung befiel ihn.

„Kommt!" sagte er ungebührlich laut. „Kommt, kommt, gute Könige!"

Er schob seinen Begleiter, der ihm das Kästchen übergeben wollte, unsanft beiseite, raffte seinen Mantel und drängte hastig voran. Erst vor der Türe verlangsamte er etwas den stürmischen Schritt und entsann sich, daß er die anderen wohl abwarten müsse.

Holzschnitte: Frans Masereel

Aber da erblickte er das Kind, ein weißes, lächelndes Bübchen, das auf dem Schoß der Mutter saß, die genau den himmelblauen Mantel trug, den man von den Heiligenbildchen her kannte. Ja! Von den Bildchen!

Balthasar kniete schon. Da darf man doch weinen. So glücklich war er wie nie ein Mensch. Und gleich darauf so todunglücklich und betrübt, wie niemand vor ihm. Du guter und allwissender Gott! Er hatte das Kästchen vergessen! Was mochte darin sein? Wo war es? Er blickte sich um. Die beiden Könige standen hinter ihm. Jeder hatte seine Gabe. Engel standen um die Heilige Familie - auch der seine war dabei - und trugen Blumen in der Hand und grüne Zweige. Und er, Balthasar - o Schande! Er hatte nichts, nichts, nichts.

Hatte er denn nichts?

Da! Er griff in sein Haar und nahm den Reif aus dem schwarzen Pelz und reichte ihn dem Kinde. Wie das sich freute! Und da sah er den Mann und die Jungfrau. Er sah sie und riß seinen Mantel von der Schulter und löste die Sandalen - eine Schnalle riß, was tat's -und warf beides dem Manne zu. Und die Jungfrau? Da war noch das seidene Hemd. Er streifte es über den Kopf und legte es Uber die Knie. Glänzend wie nasses Ebenholz, barfuß, groß und muskelbebend stand er da, und das Gebiß blitzte sein Glück.

War er zu weit gegangen? „Balthasar!" rief es streng. „Lümmel! Tagedieb!" Ihm wurde schwarz vor den Augen. Er taumelte. Ich sterbe, dachte er noch. Dann war es aus.

„Willst du wohl aufstehen, du Faulpelz!" herrschte ihn der Wärter an. „Nicht wach zu kriegen ist der Bursche ..." Und er schlug ihm mit der flachen Hand gegen die Brust. „Trolle dich! Die Glocken läuten. Willst du nicht einmal heute deine Christenpflicht erfüllen, da unser Heiland Geburtstag hat?"

Balthasar richtete sich verschlafen und zögernd auf. Er griff ins Haar. Der Reif war fort. Richtig. Er hatte ihn versteckt. Er streifte die braune Wolldecke ab, zahlte seine Schuld und ging.

Er ging zwei Straßen weiter, dorthin, wo Jesse seinen kleinen Barbierladen hatte. Da saßen sie schon wie die Hühner auf der Stange und warteten auf das Messer, das ihr stoppeliges Kinn glätten sollte. Hier konnte man Schaum schlagen, die Kunden einseifen, ein bißchen Geld verdienen.

Ob Jesse ihn erkannt hatte? Er lachte ihm zu und zwinkerte mit den Augen. Aber Jesse sagte nur trocken: „Heut kannst du arbeiten!quot; Ach, er hatte ihn nicht erkannt...

Balthasar lächelte in sich hinein. Komm, König, ermunterte er sich, nahm Seife und Wasser und schlug kräftig Schaum. Manchmal schloß er die Augen und erinnerte sich: an den schönen Engel, den Flug, den hellen Saal, die beiden Könige, das Lächeln der Jungfrau, die Freude des Kindes.

Er regte sich fleißig. Und die Seife flockte so gut heute. Schaum und Traum, dachte er lächelnd.

Traum und Schaum ...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung