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Der Traum ist ausgeträumt!

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Helmut Schmidt hat vor einigen Jahren einmal geschrieben, daß die UdSSR nicht allein an ihrer militärischen Stärke gemessen werden sollte; wesentliche Indikatoren zur Beurteilung ihrer inneren Stabilität seien die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Unzufriedenheit der Menschen. Wir wären gut beraten, die gleichen Beurteilungskriterien für die USA anzuwenden, deren politisches Establishment in Washington zwar den Sieg über den Kommunismus verkündet, während realistischere Beobachter das Ende des „amerikanischen Traums" ansagen.

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Helmut Schmidt hat vor einigen Jahren einmal geschrieben, daß die UdSSR nicht allein an ihrer militärischen Stärke gemessen werden sollte; wesentliche Indikatoren zur Beurteilung ihrer inneren Stabilität seien die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Unzufriedenheit der Menschen. Wir wären gut beraten, die gleichen Beurteilungskriterien für die USA anzuwenden, deren politisches Establishment in Washington zwar den Sieg über den Kommunismus verkündet, während realistischere Beobachter das Ende des „amerikanischen Traums" ansagen.

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Die Unruhen von Los Angeles waren dabei nur ein unüberhörbarer Aufschrei. Im Kern geht es darum, daß der Traum Amerikas, jedem der fleißig und willig, ist, ein gesichertes Leben als „Mittelschichtler" zu bieten, ausgeträumt ist. Die Mittelschicht mit einem Jahresfamilieneinkommen zwischen 20.000 und 50.000 Dollar wird das erste Mal seit Jahrzehnten kleiner statt größer: Die Ränder fransen nach oben hin, zu den Reichen, und vor allem nach unten hin, zu den Armen, aus: Die Volkszählung von 1991 zeigt, daß die Zahl der Haushalte mit einem Familieneinkommen an der Armutsgrenze von 12.190 Dollar und darunter seit 1981 von elf auf 19 Prozent der Beschäftigten gestiegen ist.

Die politischen Institutionen der amerikanischen Demokratie haben zum Nachteil des Gemeinwohls der Mehrheit der Bürger die Kontrolle über das kapitalistische Wirtschaftssystem verloren. Die Sozialgesetzgebung ist nicht in der Lage, den Menschen in den USA den für Westeuropäer selbstverständlichen Zugang zum Gesundheitswesen zu garantieren oder ihnen die Sicherheit einer Altersversorgung zu gewähren. Selbstverständlich gibt es Kranken- und Pensionsversicherungen in den USA. Die soziale Schwäche liegt vielmehr darin, daß nicht alle - und vor allem nicht die Armen - von diesem „Versicherungswesen" profitieren. Millionen und Abermillionen Amerikaner müssen daher allein beim Gedanken an die Propaganda von der Überlegenheit des amerkanischen Wirtschaftssystems angesichts ihres faktischen sozialen und ökonomischen Niedergangs einen bitteren Geschmack im Mund fühlen.

63.500 pleite gegangene Firmen

Amerika wird in den letzten fünfzehn Jahren vom rücksichtslosen Wirken einer immer größer werdenden Gruppe von geldgierigen „Entrepreneuren" ruiniert, die unter dem Schutzmantel der - von den konservativen Regierungen Reagan und Bush unterstützten - „Deregulierung" der Wirtschaft für sich einen unvorstellbaren papierenen Reichtum geschaffen haben. Auf der anderen Seite steht freilich der Bankrott Tausender Sparkassen aufgrund atemberaubender Fehlspekulationen am „Junkbond"- und Immobilienmarkt und die riskanten Finanzierungen von Umschichtungen in der amerikanischen Firmenlandschaft auf Schuldenbasis in ungeahnter Größenordnung. Ökonomen priesen diese Dynamik der US-Wirtschaft - in Wirklichkeit hat sie aber zur Zerstörung des amerikanischen Gemeinwohls beigetragen.

Die Steuerzahler müssen nicht nur mit über 500 Milliarden Dollar für die verlorenen Sparguthaben und die volkswirtschaftlichen Fehler der „Wirtschaftsmanager" aufkommen. Durch die von den Ökonomen an der Wall Street hochgelobten Methoden der „mergers and ac-quisitions" und „leveraged buyouts" mit ausgeborgtem Geld sind in den letzten Jahren 63.500 gesunde und teilweise international renommierte Firmen pleite gegangen. In der Industrie gingen neun Prozent der Arbeitsplätze verloren.

Die technologische und wissenschaftliche Erneuerung weiter Teile der Schlüsselindustrien konnte wegen der gigantischen Überschuldung der Firmen nicht vorgenommen werden, was deutliche Auswirkungen auf die Qualität und damit Wettbewerbsfähigkeit zahlloser amerikanischer Produkte hat. Zusätzlich sind gerade in der Industrie die Löhne der Arbeiter nicht nur nicht gestiegen, sondern deutlich gefallen - im Gegensatz zu den Gehältern des Managements, die streckenweise astronomische Höhen erreicht haben.

Lobbies verhindern Sozialgesetze

Wer heute fragt, was in den USA falsch gelaufen ist, sollte hinter den nüchternen Wirtschaftsdaten das tragische Schicksal von Millionen Menschen sehen. Die USA sind heute weiter denn je davon entfernt, soziale Gerechtigkeit für ihre Bürger walten lassen zu können. Der für Europäer geläufige politische Grundkonsens der „sozialen Partnerschaft" ist für den Amerikaner ein Fremdwort geblieben. Denn auf der einen Seite sind die meisten für diese dubiosen Machenschaften verantwortlichen Wirtschaftsmanager persönlich unglaublich reich geworden. Gleichzeitig verlieren Millionen Industriearbeiter und Angestellte in beinahe allen Branchen mangels wirkungsvollen Arbeitsrechts ihre sozialen Rechte und gutbezahlte Arbeitsplätze inklusive der dazugehörenden Pensions- und Krankenversicherungsfonds. Die Lebens- und Wochenarbeitszeit ist in den USA im letzten Jahrzehnt bei stagnierendem Einkommen gestiegen - und nicht gefallen.

Anders gerechnet: Lediglich ein Prozent der Bevölkerung hat in den achtziger Jahren 70 Prozent der gesamten Einkommenssteigerungen der US-Volkswirtschaft verdient; beziehungsweise 40 Prozent (der Wohlhabenden) haben 100 Prozent vom Steigerungskuchen verzehrt. Das bedeutet, daß 60 Prozent der US-Amerikaner heute weniger oder gleich viel verdienen als zehn Jahre zuvor.

Doch die Strategie von über 11.000 Lobbies in der Hauptstadt Washington verhindert möglichst alle (Sozial-)Gesetze zum Nachteil der Unternehmen oder will bestehende Regulierungen aushöhlen. Betroffen ist die soziale Stabilität der USA im gesamten. Beobachter sind sich darüber einig, daß der Kongreß in Washington nicht im Dienste seiner Wählerschaft, sondern jeder Abgeordnete für sich als Einzelkämpfer im Interesse der Lobbyisten der verschiedenen Wirtschaftsgruppen handelt. Oder besser gesagt, nicht handelt.

Im Falle des Zusammenbruchs der Sparkassen wußten die Abgeordneten im zuständigen Ausschuß schon lange vom wahren Ausmaß des Skandals, nur ließen sie sich nachweisbar ihr Nichteinschreiten mit Wahlkampfspenden teuer bezahlen. Sie haben damit das Desaster vom Steuerzahler nicht ferngehalten. Der Vertrauensverlust in die Demokraten als Partei des „kleinen Mannes" steht im unmittelbaren Zusammenhang mit diesen unglaublichen Versäumnissen des politischen Systems.

Die USA stehen daher am Scheideweg: Entweder besinnt sich die Politik auf den Wert des Gemeinwohls und folgt nicht mehr blindlings der ideologischen Propaganda von der ausschließlichen Überlegenheit des freien Kräftespiels am Markt; der Kapitalismus amerikanischer Spielart hat bisher nicht beweisen können, daß er ohne politisches Korrektiv der Mehrheit der Menschen zum Vorteil gerät! Oder diese Mehrheit der zurückgelassenen Amerikaner folgt den radikalisierten politischen Außenseitern und politischen Neulingen, wie Pat Buchanan oder H. Ross Perot - und begibt sich damit in eine ungewisse Zukunft.

Die politische und wirtschaftliche Vorbildrolle für den Rest der Welt haben die USA freilich bereits jetzt verloren.

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