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Der Traum vom „Gottesstaat“

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Die Moderne ist in die Welt des Islam von außen eingedrungen, und zwar meist gewaltsam. Das Ergebnis war bei vielen Moslems eine Abkapselung mit Hilfe des Islamismus.

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Die Moderne ist in die Welt des Islam von außen eingedrungen, und zwar meist gewaltsam. Das Ergebnis war bei vielen Moslems eine Abkapselung mit Hilfe des Islamismus.

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In den sechziger Jahren - und bis in die Siebziger dieses Jahrhunderts hinein - herrschte in den meisten Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung die Ansicht vor, eine neue arabische oder türkische oder iranische Zivilisation müsse auf dem Nationalismus gründen. Es war nicht der Islam, auf den man eine eigenständige Staatsmacht zu gründen trachtete, sondern moderne politische Ideologien, wie etwa der sozialistisch orientierte Pan-Ara-bismus, der seinen deutlichsten Ausdruck in Nassers Ägypten, aber auch im Irak und in Syrien fand. Das Versagen dieser Versuche führte dazu, daß weite Kreise der Bildungsschicht zu zweifeln begannen, ob der Nationalismus nicht doch nur eine Oberflächenreaktion auf den Kolonialismus war. Man hatte ihn vom Westen übernommen, um die Imperialisten mit ihren eigenen Methoden zu bekämpfen.

Nach Erringung der nationalen Unabhängigkeit erwies sich jedoch der Nationalismus als eine Enttäuschung, und die sozialistischen Experimente erst recht. Den importierten Ideologien schienen die motorischen Kräfte zu fehlen. Diese hoffen viele nun im Islam wiederzufinden. Als Wendepunkt wird meist der „Sechs-Tage-Krieg“ vom Juni 1967 angegeben, die „große Niederlage“, die zum Trauma nicht nur für die Araber, sondern für weite Teile der islamischen Welt wurde.

Seither ist viel von einer „Re-Is-lamisierung“ die Rede. Dabei handelt es sich sowohl um eine kulturelle Rückbesinnung auf das islamische Erbe als auch um eine Aktivierung des Islam für politische Zwecke. Problematisch ist dabei, daß der Islam weder eine Renaissance noch eine Aufklärung im europäischen Sinne durchgemacht hat, auch ist es nicht zu einer industriellen Revolution aus eigenen Kräften gekommen. Die Moderne ist in die Welt des Islam von außen eingedrungen, und zwar meist gewaltsam. Sie war nicht das Ergebnis eigenständiger Entwicklungen und ließ sich nicht aus den Traditionen der eigenen Gesellschaft herleiten. Die Modernisierung rührte nicht aus einer Auseinandersetzung innerhalb der eigenen religiösen Vorstellungswelt her, sondern drängte sich auf. Deshalb wirkte sie häufig zerstörerisch und forderte eine Ablehnung geradezu heraus. Das Ergebnis war bei vielen eine Abkapselung mit Hilfe des islamischen Fundamentalismus.

Im Falle des Iran verlief die Entwicklung besonders kraß, da hier Verwestlichung mit einem stümperhaften Neo-Heidentum einherging. Der Schah verfolgte zumeist eine recht unverhohlen anti-islamische Politik und versuchte, das vorislamische Perser -tum wiederzubeleben.

In Teilen der modernen Bildungsschicht zeigte der Rückgriff auf Zarathustra anfangs durchaus Erfolge. Die Masse des Volkes dagegen empfand die offizielle Propagierung eines „arischen Humanismus“ als anstößig, soweit er überhaupt verstanden wurde. Die luxuriösen Feiern von Persepolis anläßlich des 2500jäh-rigen Bestehens der persischen Monarchie wären der Mehrheit der Iraner ein Greuel, und zwar nicht nur wegen der Verschwendungssucht der herrschenden Schicht, sondern auch deshalb, weil man darin eine eklatante Herausforderung des Islam sah.

Dadurch gelangte auch der Iran zunehmend in den Sog der allgemeinen Re-Islamisierung, die in Ägypten und im Sudan, in Pakistan und Indonesien viel früher von sich reden machte. Es handelt sich dabei um eine tiefgreifende Gesellschaftskrise, hervorgerufen durch die Angst vor Identitätsschwund. Die Re-Islamisierung ist nicht zu Unrecht als eine Defensivreaktion interpretiert worden: eine vorindustrielle Kultur lehnt sich gegen die unreflek-tierte Assimilation in das wissenschaftlich-technische Zeitalter auf. Das Gros der muslimischen Gesellschaften befindet sich während des gegenwärtigen Stadiums der Modernisierung in einer Ubergangssituation.

Die Einordnung in die neue Weltzivilisation ist noch nicht abgeschlossen, ihrer traditionellen Ordnung jedoch gehören die Iraner und andere Muslims nicht länger an. Sie sind also weder das eine noch das andere, sondern fristen sozusagen ein Zwitterdasein. Letztlich möchten sie aus der alten Welt heraus, um in die neue richtig vorzudringen — von dort werden sie jedoch immer wieder zurückgewiesen. Sie hängen also in der Luft beziehungsweise hok-ken wie pakistanische Arbeiter in einem Istanbuler Elendsquartier, denn diese haben in Pakistan alles aufgegeben, aber in die Bundesrepublik können sie nicht einreisen, oder sind von dort bereits ausgewiesen worden.

Doch wie äußert sich der Islamismus konkret? Anstelle der Rassenzugehörigkeit steht als Wertmaßstab der Islamisten die Auserwähltheit durch Religionszugehörigkeit. In der Praxis erweist sich jedoch, daß der Islamismus in den meisten Staaten von jeweils nur einer, bestenfalls zwei ethnischen Gruppen getragen wird, und von dieser zur Niederhaltung der übrigen ethnischen Gruppen gebraucht wird beziehungsweise gebraucht werden soll.

So stehen in Algerien den Islamisten unter den Arabern die meist nicht-islamistischen Berber gegenüber, in Mauretanien den Islamisten unter den Mauren die überwiegend nicht-islamistischen Schwarzafrikaner, im Sudan den Islamisten unter den Nordsudanesen die nicht-islamistischen Südsudanesen. In Pakistan stehen die größtenteils aus Indien eingewanderten Islamisten im Konflikt mit den nicht-islamistischen Einheimischen. In Malaysia und Indonesien kommt der anti-chinesische 1 Rassismus am stärksten bei den Islamisten zum Ausdruck.

Ohne Zweifel nährt sich der Islamismus von der Re-Islamisierung, innerhalb dieser bleibt er jedoch ein Fremdkörper, bestenfalls ein Nebenprodukt. Der passendste Vergleich ist wohl immer noch der mit dem Floß, das in einem reißenden Fluß schwimmt. Der Fluß ist die allgemeine Re-Islamisierung, ohne ihn kommt das Floß, also der Islamismus, nicht voran. Fluß und Floß sind aber alles andere als identisch. Es ist nicht einmal auszuschließen, daß gerade ein Anschwellen des Flusses das Floß zum Kentern bringt.

Während der iranischen Revolution drängte sich der Eindruck auf, als sei der Islam lediglich eine Form, die sich für landesspezifische revolutionäre Zwecke besonders gut eigne.

Doch der Iran ist in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Bedenkt man, daß in Ägypten beziehungsweise der arabischen Welt insgesamt der Islamismus seinen ersten Höhepunkt in den frühen fünfziger Jahren hatte, dann erscheint Ayatollah Ruhollah Chomeini wie ein Spätzünder. Außerdem ist der Iran das einzige Land, in dem die schiitische Konfession des Islam Staatsreligion ist, und zwar seit dem 16. Jahrhundert. Heute charakterisiert man das Schiitentum gern als einen andauernden „Ruf der Gerechtigkeit“, der sich durch die gesamte islamische Geschichte hindurchziehe. Tatsächlich erhielt diese Vorstellung schon in frühen Zeiten ihren Ausdruck durch die Doktrin vom verschwundenen Imam, der am Ende der Zeiten zurückkehren werde, um das Zeitalter der Gerechtigkeit auf Erden anbrechen zu lassen.

Als in den siebziger Jahren die Re-Islamisierung auf den Iran übergriff, setzte eine junge Generation westlich Gebildeter ihre Hoffnungen in den Soziologen Ali Shari äti, der in Paris studiert hatte und von Dritte-Welt-Revolutionären wie Frantz Fanon beeinflußt war. Für ihn war islamische Erneuerung gleichbedeutend mit einem fortschrittlichen Humanismus. Das zog die iranischen Studenten vom „arischen Humanismus“ des Schahs weg zu einer neuen Identifizierung mit dem Islam, und zwar innerhalb nur weniger Jahre. Shari äti kam 1977 in England um, wahrscheinlich wurde er im Auftrag des Schahs ermordet. Nutznießer des entfachten islamischen Selbstbewußtseins wurde Chomeini, dessen Kassetten mit islamischen Themen nun erst aufmerksame Zuhörer fanden.

Chomeini wurde erst durch die Woge des Massenaufstands zum zeitweiligen Helden der iranischen Nation, sozusagen über Nacht. Dazu verhalf ihm in erster Linie seine politische Radikalität. Seinen phänomenalen Aufstieg verdankt er weit mehr den Fehlern des Schahs und der Verzweiflung der Iraner als seinen eigenen Leistungen als Geistlicher. Seine theologische Autorität bleibt weiterhin umstritten — selbst unter den Schiiten des Iran.

Der Massenaufstand nannte sich von vornherein islamisch, hatte seine Ursachen jedoch hauptsächlich in politischen und sozialen Mißständen. Im Augenblick der tiefsten Verzweiflung fand Chomeini Widerhall mit seiner schlichten Botschaft, die Rückkehr zum wahren Glauben würde einen gerechten „islamischen Staat“ ermöglichen.

Außer Zweifel steht, daß der Umbruch sich nur mit Hilfe der etwa 180.000 Geistlichen, die man im Iran Mullahs nennt, so schnell durchsetzen ließ. Allein die Mullahs verfügten über die im einfachen Volk verwurzelte Autorität und die Möglichkeit, in dem diktatorisch regierten Land ihre anklagende Stimme zu erheben. Die Moscheen boten ihnen das Instrument, Kontakte herzustellen, Informationen zu verbreiten, Cho-meinis Kassetten vorzuspielen und Einflußmöglichkeiten zu nutzen, denen der Geheimdienst nur schwer beizukommen vermochte. Die Kampfsituation brachte mehr und mehr Iraner in die Moscheen zurück, deren Besuch zuvor merklich nachgelassen hatte.

Der Autor ist Islamexperte und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Orient-Institutes in Hamburg. Bisher erschienen zum Themenbereich politischer Islam Beiträge in der FURCHE 11/1986.

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