Der traurige Geburtstag
Vor hundert Jahren, am 18. Jänner 1871, wurde im Spiegelsaal von Versailles das deutsche Kaiserreich gegründet. Die 500 Teilnehmer an dieser denkwürdigen Zeremonie setzten sich fast zur Gänze aus Militärs und Diplomaten zusammen. Nur 30 Delegierte des Deutschen Bundes deuteten an, daß es sich um eine Staatsgründung handelte. Eine Krankenschwester, die zufällig eine Tür auf machte, war die einzige Vertreterin des Volkes. Das neue Reich begann im Zuge eines siegreichen Krieges gegen Frankreich und endete im Zuge eines verlorenen Krieges gegen Frankreich und dessen Verbündete. Gleichfalls in Versailles wurde 1919 der Friedensvertrag geschlossen, der die Weimarer Republik, die das Kaiserreich abgelöst hatte, geistig und materiell so schwer belastete, daß sie schon 15 Jahre später dem Dritten Reich Adolf Hitlers weichen mußte. Dieses war zwar das gewaltigste Reich, das die Deutschen je ihr eigen nannten, doch endete es mit der größten Katastrophe der deutschen Geschichte.
Vor hundert Jahren, am 18. Jänner 1871, wurde im Spiegelsaal von Versailles das deutsche Kaiserreich gegründet. Die 500 Teilnehmer an dieser denkwürdigen Zeremonie setzten sich fast zur Gänze aus Militärs und Diplomaten zusammen. Nur 30 Delegierte des Deutschen Bundes deuteten an, daß es sich um eine Staatsgründung handelte. Eine Krankenschwester, die zufällig eine Tür auf machte, war die einzige Vertreterin des Volkes. Das neue Reich begann im Zuge eines siegreichen Krieges gegen Frankreich und endete im Zuge eines verlorenen Krieges gegen Frankreich und dessen Verbündete. Gleichfalls in Versailles wurde 1919 der Friedensvertrag geschlossen, der die Weimarer Republik, die das Kaiserreich abgelöst hatte, geistig und materiell so schwer belastete, daß sie schon 15 Jahre später dem Dritten Reich Adolf Hitlers weichen mußte. Dieses war zwar das gewaltigste Reich, das die Deutschen je ihr eigen nannten, doch endete es mit der größten Katastrophe der deutschen Geschichte.
Die Staatsschöpfung Otto Bismarcks war keinesfalls die Erfüllung eines nationalen Traumes, sondern das Ergebnis dynastischer und machtpolitischer Faktoren. Bismarck hatte schon in den Jahren von 1851 bis 1859, als er preußischer Gesandter beim Deutschen Bundestag in Frankfurt war, alles getan, um die österreichische Stellung im Deutschen Bund zu unterminieren. Aber auch die Zeittendenzen waren gegen Österreich. Die Idee des Nationalstaates wurde Mode. Die italienische Einigung im Jahre 1861 galt den Deutschen als Vorbild.
Preußen schwamm im Grunde gegen den Willen seiner Könige auf dieser Welle mit. Der Haupterfolg der Befreiungskriege gegen Napoleon wurde ihm zugeschrieben. Die Gründung der Berliner Universität durch Wilhelm von Humboldt und die von ihr ausgehende Universitätsreform sowie gesamtdeutsche Ausstrahlung, die Berliner literarischen Salons, die Literatur- und Geistesgrößen wie Fichte, Schelling, Hegel, Stein, die Brüder Humboldt und Schlegel, Kleist, Tieck und E. T. A. Hoffmann besaßen starke geistige Anziehungskraft für alle Deutschen. Dazu kam, daß im Wiener Kongreß Preußen für seine polnischen Gebietsverluste an Rußland mit der Rheinprovinz entschädigt wurde, während sich Österreich politisch aus Westdeutschland zurückzog, wodurch Preußen nicht nur eine Doppelaufgabe im Westen und Osten de® Reiches erhielt, sondern auch durch die ständig wachsende ökonomische Bedeutung seines westlichen Teiles Österreich wirtschaftlich überrundete. Nicht einmal die Tatsache, daß König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung angebotenen Kaiserkrone ablehnte, weil sie seiner Meinung nach ein „Diadem, geknetet aus Dreck und Letten der Treulosigkeit, des Treubruchs und Hochverrats“ wäre, konnte den Glauben der 1815 gegründeten Deutschen Burschenschaft und der deutschen Schützenvereine sowie Tumerbünde, aber auch nicht den Glauben der deutschen Liberalen erschüttern, daß Preußen bestimmt sei, die deutsche Nation zu einigen.
Der Deutsche Zollverein
Österreich stand dagegen auf verlorenem Posten. Der Vielvölkerstaat hatte an der Bildung eines Nationalstaates aus Selbsterhaltungsgründen kein Interesse. Als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im Zuge der napoleonischen Kriege aufgelöst wurde, war auch die Idee des Reiches als übernationale Staatengemeinschaft gestorben. Der Deutsche Bund, der 1814 auf dem Wiener Kongreß als Ersatz geschaffen wurde, konnte niemanden befriedigen. Er besaß weder ein Oberhaupt noch eine Volksvertretung, weder die Möglichkeit einer gemeinsamen Außenpolitik noch ein einheitliches Recht oder Münz- und Maßeinheiten. Mehr noch als alle idealistischen Einheitsbestrebungen im deutchsen Volk konnte die wirtschaftliche Taktik Preußens den Weg zum deutschen Nationalstaat beschleunigen. Preußen gründete 1834 den Deutschen Zollverein und 1866 den Norddeutschen Bund, dem alle Länder nördlich vom Main, insgesamt zweiundzwanzig Staaten mit 30 Mil lionen Menschen, angehörten. Nachdem Preußen 1866 Österreich besiegt und aus dem Deutschen Bund verdrängt und sich Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt am Main einverleibt hatte, gelang es Bismarck, den Krieg gegen Napoleon III. zu einer Art deutschen Nationalkrieg umzufunktionieren. Nach dem Sieg über Frankreich schloß er im Dezember 1870 in Versailles mit den süddeutschen Staaten die Verträge zur Bildung des Deutschen Reiches, das als Zweites Reich und als kleindeutsche Lösung (ohne Österreich) in die Geschichte einging.
Der entscheidende Träger der Souveränität in diesem neuen Staat war der Bundesrat, dem alle Fürsten und Freien Städte angehörten. Der Reichskanzler war zugleich preußischer Ministerpräsident. Er wurde vom Kaiser ernannt oder entlassen und war diesem allein verantwortlich. Obwohl allgemeine Wahlen für 397 Abgeordnetensitze ausgeschrieben wurden, beteiligten sich nur 9 Prozent der Wahlberechtigten daran. Wählen durfte nur, wer das 25. Lebensjahr erreicht hatte. Frauen besaßen überhaupt kein Wahlrecht. Als Farben für die Reichsflagge wurde das Schwarz- Weiß Preußens und das Rot der Hansestädte gewählt. Das so ersehnte Schwarz-Rat-Gold der Deutschen Burschenschaft, das diese Vom
Lützowschen Freikorps des Freiheitskriegs gegen Napoleon übernommen hatte, wurde bewußt beiseite gelassen. Das Volk sollte keinen Anteil an dieser Reichsgründung haben. Schon Friedrich Wilhelm IV. meinte 1848, daß eine vom Volk dar- gebotene Krone „wie das Aas zu schlecht sei, um von Hohienzollem- Händen berührt zu werden“. Kein Lied und kein Gedicht, abgesehen von einigen Pflichtgedichten für die Schulbücher, feierten das Ereignis der Reichsgründung in Versailles, während die Versammlung der Paulskirche im Jahre 1848 sehr wohl Deutschlands Poeten inspiriert hatte.
Preußen geht vor dem Reich
Das wohl Entscheidende dieser Reichsgründung war, daß Preußen nicht im Reich aufging, wie etwa Piemont, Ausgangspunkt der italienischen Einigung, in Italien aufgegangen war. Die Souveränität Preußens blieb erhalten. Neben der Reichsregierung gab es auch die königliche Staatsregierung, neben dem Reichstag bestand die preußische Volksvertretung. Während für das Reich das allgemeine Wahlrecht galt, wurde in Preußen nach dem Drei-Klassen-Wahlrecht gewählt. Der Umfang Preußens betrug zwei Drittel des Reichsgebietes und die Macht Preußens überschattete die Entwicklung des Reiches.
Die drei Säulen dieses neuen Reiches waren der Adel, das Militär und das Beamtentum. Als Gegner aber entwickelten sich: den? von Ferdinand Lassalle 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die von August Bebel 1869 gegründete Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Sie war das Ergebnis einer Spaltung der Lasalleschen Gründung, vereinigte sich aber 1875 wieder mit ihr zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“. Ferner die bürgerlich-liberale Gruppe, die zwar die Reichsgründung bejahte, aber Bismarck übelnahm, daß er weder für eine konstitutionelle Monarchie Aoch für ein Parlament etwas übrig hatte. Vor allem aber trat die 1870 gegründete katholische Zentrumspartei unter ihrem Führer Ludwig Windthorst als Gegner auf. Bismarck hatte gleich zu Beginn des neuen Reiches einen Kulturkampf heraufbeschworen.
Als geistige Grundlage des Bismarck-Staates galt die Staatslehre Hegels, der den Staat als die Verwirklichung der sittlichen Idee hinstellte und ihm eine andere Moral zugestand als dem Einzelmenschen, was schließlich auch zur Rechtfertigung der Unmoral führte. Es gelang weder der zu Preußen gehörenden Rheinprovinz noch den Gliedstaaten des Reiches» den neuen Staat in ein Gemeinwesen nach westlichem Muster umzuwandeln. Das autoritäre preußische Staatsideal mit stark östlichen Zügen blieb vorherrschend. Das brachte Bismarck auch in Konflikt mit der Arbeiterbewegung. Er setzte 1878 das „Sozialistengesetz“ durch, mit dem die „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ bis zum Jahre 1890 verboten wurde. Dabei schuf Bismarck Sozialgesetze, die Vorbild für die ganze Welt wurden. Er ging allerdings von der These eines Staatssozialismus aus. Der Staat habe für die Untertanen zu sorgen, doch der Untertan ohne Besitz und Bildung sollte so wenig wie möglich in öffentlichen Dingen mitreden. Seine Aufgabe wäre es, zu gehorchen. Schließlich gab es auch noch das sogenannte „heimliche Deutschland“, dem viele Dichter mit Stefan George an der Spitze, aber auch Wissenschaftler, wie der Nationalökonom Max Weber und der Historiker Jakob Burckhardt angehörten. Burckhardt war gegen die Reichsgründung durch Preußen, weil er Preußen als kulturfeindliche Macht betrachtete.
Wissenschaft und Wirtschaft blühten Es kann allerdings nicht verschwiegen wenden, diaß das Zweite Reich einen bis dahin ungeahnten Aufschwung auf dem Gebiet der Wissenschaft und Wirtschaft nahm. Die Industrialisierung und Verstädterung ging mit Riesenschritten vor sich und brachte innerhalb kurzer Zeit eine Verdoppelung des Realeinkommens von 326 auf 728 Mark pro Kopf der Bevölkerung mit sich. Wohnten 1871 nur 4,8 Prozent der Bevölkerüng in Großstädten, so stieg die Zahl bis zur Jahrhundertwende auf 16,2 Prozent. Der Handel blühte, und das Ansehen Deutschlands wuchs dank seiner Wissenschaftler, Kultur- philosophen und Künstler ins Gigantische. Schopenhauer, Nietzsche und Wagner beeinflußten die geistige Elite von Völkern und Generationen. Justus Liebig, Friedrich Wöhler und Friedrich August Kekulė revolutionierten die Chemie, Robert Koch und Emil von Behring die Medizin. Max Planck entdeckte die Quantentheorie und Einstein die Relativitätstheorie. Die Welt sprach von einem deutschen Jahrhundert.
Erfolgreich war Bismarck auch auf dem Gebiet der Außenpolitik. Mit Österreich, das er 1866 besiegt hatte, schloß er 1879 ein Defensivbündnis, dem 1883 auch Italien bei trat (Dreibund). Der Berliner Kongreß im Jahre 1878 sah das Bismarck- Reich auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung, doch schon hier zeigten sich Spannungen mit Rußland wegen der Balkanpolitik. Bismarck vermochte allerdings, die Spannungen zu überspielen, ja es gelang ihm sogar, 1887 mit Rußland einen Rückversicherungsvertrag abzuschließen. Diese Balancepolitik geriet nach Bismarcks erzwungenem Rücktritt ins Schwanken. Die Ära Wilhelms II. raubte der Bismarck- schen Reichsgründung nahezu alle ausländischen Sympathien. Die Flottenpläne von Tirpitz und der Schlieffen-Plan, der die Neutralitätsverletzung Belgiens vorsah, schlossen ein neutrales Stillhalten Englands im kommenden Krieg aus. Die Beziehungen zu Rußland wur den immer schlechter, und der Revanchewillen Frankreichs konnte schon in der Ära Bismarcks nicht überwunden werden. Im Reich selbst aber machte sich nun die geistige Unruhe immer stärker bemerkbar. Eine rebellierende deutsche Jugendbewegung offenbarte die Unzufriedenheit mit der Vätergeneration, der man Verrat an den Idealen der achtundvierziger Jahre vorwarf, die sie dem materiellen Wohlstand geopfert hältte.
Hitlers preußische Ostpolitik
Von Feinden rings umgeben schlitterte das Zweite Reich in den Krieg, den es unter allen Umständen hätte vermeiden müssen. Der Niederlage folgte der Sturz der Hohenzollem und aller übrigen regierenden Fürsten in Deutschland. Die Weimarer Republik führte zwar die westlichen Formen der Demokratie ein, konnte aber nicht der zwei aus dem Bismarck-Reich übernommenen Probleme Herr werden. Das Militär blieb ein Staat im Staat, und die Übermacht Preußens blieb erhalten. Das Militär schloß mit der Sowjetunion Geheimverträge ab, die eine Wiederaufrüstung und damit eine Umgehung des Versailler Friedensvertrages ermöglichte. Der Kampf gegen die westliche Demokratie und die Verherrlichung des preußischen Staatsideals hatten zumindest geistig einen großen Anteil am Sturz der Weimarer Republik. Die Politik Stresemanns, mit dem Westen zu einem echt freundschaftlichen Verhältnis zu gelangen, scheiterte am Ende an Hitlers Politik. Dieser griff aus Eroberungsgier auf die alte preußische Politik zurück, wie sie vor allem Friedrich der Große und dann Friedrich Wilhelm III. zur Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon betrieben hatten: Rußland als Verbündeten gegen den Westen herbeizuholen. Der Molotow-Ribbentrop- Pakt im August 1939 mit seinen geheimen Zusatzprotokollen, die Polens Teilung vorsahen, besiegelte diese Politik. Stalin hielt von Hitler viel und betrachtete ihn als einen Verbündeten gegen die kapitalistische Welt. Wenn auch gegen seinen Willen, wurde Hitler der Hauptkumpan von Stalins imperialistischer Politik und der Rächer Österreichs an Preußen. Die Russen raubten den Osten Preußens und übergaben ihn den Polen. Die Engländer lösten Westpreußen auf und gründeten 1946 das Land Nordrhein-Westfalen. Preußen gibt es seitdem nicht mehr. Adenauer schuf vom Rheinland aus ein neues Deutschland, das kulturell, wirtschaftlich und politisch gänzlich in der westlichen Welt verankert wenden sollte. Erst unter Bundeskanzler Brandt beginnt die Bundesrepublik wieder eine eigene Ostpolitik zu betreiben und damit die politische Tradition Preußens wieder aufzunehmen.