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Der Türmer, der weiterspielt...

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„Es vergeht schon ein Jahrhundert, Da man aus Moskau nach Polen Lauter Schufte schickt.“ Adam Mickiewicz (1798—1855), „Ahnenfeier“

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„Es vergeht schon ein Jahrhundert, Da man aus Moskau nach Polen Lauter Schufte schickt.“ Adam Mickiewicz (1798—1855), „Ahnenfeier“

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Des Dichters Mickiewicz Denkmal steht am Marktplatz von Krakau, sein Leichnam liegt in der großen Kathedrale am Wawel, Krakaus Burgberg; dort liegt er unter den Großen seines Landes, er, der Dichter seines Landes, der Legionär Polens, der Freund Puschkins und Goethes. Jedes Kind in Polen kennt Mickiewicz' große romantische Dichtungen, kann frei aus dem „Herrn Thaddäus“ zitieren, vor allem aber aus den „Büchern des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft“. Einer Pilgerschaft durch die Jahrhunderte Europas, getrieben, vertrieben, geschlagen, zerschlagen, ge-kechtet, befreit.

Ein trüber Wintertag in Krakau. Zwischen den nur noch schwachbelaubten Bäumen am Wawelabhang erkennt man die Weichsel, die hier trag und im weiten Bogen vorbeifließt. Im großen Dom, der Krö-

nungskirche der polnischen Könige, spielt der Organist die letzten Takte. Grau entläßt das Portal die grauen Gläubigen. Zuletzt kommt der Bischof, um ihn junge Priester. Vor , dem Tor zur Kathedrale ein Lehrer mit seiner Schulklasse. Buben, kaum 14 Jahre alt, in uniformen graublauen und lila Anoraks. Nichts be-scnderes: Viele Schulklassen pilgern den Wawel herauf, fast jeder junge Pole kommt einmal hierher.

Plötzlich ist der Bischof zwischen den Kindern. Eines beugt sich nieder, küßt den Ring; die anderen folgen. Zuletzt der Lehrer.

Er ist Angestellter des polnischen Staates, unterstellt dem Unterrichtsministerium, an dessen Spitze ein Mitglied der KP steht. Vielleicht ist auch der Lehrer selbst Kommunist. Der Bischof lächelt. Polen bleibt Polen.

In der Kathedrale sind die letzten Kerzen verlöscht. Nur im Dämmerlicht des grauen Vormittags spiegeln sich die hellen Grabstätten von Polens großen Jagellonen; Schöpfungen der Renaissance, die nichts ihresgleichen haben. Sigismund, Wladislaw Jagiello, gegenüber die Königin Jadwiga. Sie ruhen auf ihren Sarkophagen aus: halb sitzend, halb liegend, ein Bein angewinkelt, ganz so, als ob sie Konversation halten wollten mit ihren Besuchern. Nicht ernst oder herrisch, nein, fast lässig, gleichgültig. Sie haben Polen zum Zentrum des

Kultur- und Geisteslebens Osteuropas gemacht, sie haben dem Land Kunst und Europa vermittelt, Polen ins Abendland geführt. Polens Geschichte der Rückschläge und Untergänge haben sie für gut 100 Jahre unterbrochen. Aus Krakau machten sie eine europäische Metropole, in der italienische Baumeister, deutsche Handwerker und exilierte Juden arbeiteten.

Unter ihnen, den großen Königen, liegt auch Johann Sobieski. Ein Fries hält seine große Tat fest: links vorne der Kahlenberg, die Türken, die polnischen Reiter, dahinter Sankt Stephan; lateinisch die Inschrift: Sieger vor Wien über die Türken, anno 1683.

Krakaus großer Dom ist ein polnisches Nationalmuseum. Gott ist hier verbündet mit seiner Nation. Unter den vielen Altären in der Krypta die anderen Helden: Tadeusz Ko-sciuszko, der General unter George Washington im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der Ehrenbürger der französischen Jakobiner, „Staatschef“ im Krakau des Jahres 1794, der unglückliche Verlierer gegen die Zarenarmee, der Verhandlungspartner Napoleon Bonapartes, der Flüchtling in der Schweiz.

Und dann Jozef Pilsudzki, Verbannter in Sibirien, Führer der Legion Polens an der Seite Österreichs gegen die Russen im Jahre 1914, Internierter der Mittelmächte 1917, dann, 1918, erster Staatschef des wiederentstandenen Polen, Sieger über die Rote Armee.

Oder Juliusz Slowacki, neben Mickiewicz der wohl bedeutendste Dichter der Polen, Beschreiber des Leidens seines Volkes, des Martyriums der Verbannten. Was er reimte, ist für Polen noch immer Realität: die Umzingelung und der Mangel an Selbstbestimmung.

Polens Problem, am Wawel und in den engen Straßen Krakaus nachspürbar, liegt im Verlust des staatlichen und nationalen Daseins just in jener Phase der Weltgeschichte, da Europas Nationen dieses erwarben. So mußte Polen besonders intensiv diesen Prozeß erleben, weil es just zu Ende des 18. und im 19. Jahrhundert geteilte Beute seiner Nachbarn war. Stets zwischen Rom und Byzanz, zwischen Preußen und Zaren, zwischen Reformierten und Orthodoxen zu leben, mußte sich auf die Psyche des Volkes als Fluch der Geographie und der Geschichte legen.

So blieb und bleibt Polen keine andere Chance: In der Situation der ideologischen Umzingelung und des historischen Glücksspiels, muß es in der Gefahr der Entwurzelung seine Identiät durch Nationalismus bewahren — auch heute noch, da allerorten die Zeugen des Nationalismus zerfallen und die Begrifflichkeit der Nation porös geworden ist: noch ist dieses Polen nicht verloren.

Sonntag vormittag in der Marienkirche in Krakau; hier, vor einem der größten, 2000 Figuren umfassenden gotischen Flügelaltäre Europas, den Veit Stoß geschaffen hat, predigt ein polnischer Priester. Vielleicht 30 Jahre alt, mit kurzem Haar, die slawischen Backenknochen im kräftig-bäuerlichen Gesicht, das seine galizische Heimat verrät, im Winter

1973, in Polens zweitgrößter Stadt: er spricht von seiner Kirche, die die Kirche Polens ist — und von dem Regime, das dieser Kirche tägliche Fesseln auferlegt. Er spricht von der Beschränkung des Unterrichts, den bedrängten Seminaren, der gedrosselten Presse. In Afrika, in Vietnam — so sagt er —, da spricht Polens Partei von der bedrohten Freiheit: und hier, in Polen?

Polen und seine Kirche: das ist die Identität von Volk und Glauben, früher und heute. Jedes Kind lernt in Polen die Verse aus dem „Herrn Thaddäus“ des Adam Mickiewicz:

„Heilige Jungfrau, die du das helle Tschenstochau verteidigst, und leuchtest im spitzen Tor zu Wtlna...“

In Tschenstochau ist die Heilige Jungfrau, die „Königin der polnischen Krone“, den Verteidigern gegen die protestantischen Schweden erschienen. In Wilna stand die Jungfrau den Polen im Kampf gegen die orthodoxen Russen bei. Diese Madonnen sind keine Gestalten der individuellen Verehrung, der wundertätigen Krankenheilung: sie sind

Fürsprecherinnen eines Volkes, Fürbitterinnen der „polnischen Sache“, Jeanne d'Arc des Ostens.

Man hört, daß Papst Paul VI. Polen besuchen will. Es wäre eine würdige Pilgerschaft.

Krakau an einem Wintertag des Jahres 1973. Eine graue Stadt hinter romantischen Fassaden, eine Stadt junger Menschen, aber alten Universitäten, ein Rest von Großösterreich. Strohblumenverkäuferinnen in ihrer galizischen Tracht drücken sich an die Renaissance-Tuchhallen des

Marktplatzes; am Turm der „Ma-riacki“ spielt zu jeder Stunde ein Bläser eine alte Melodie und bricht im letzten Takt ab; zur Erinnerung an jenen Tatarenüberfall, als ein Pfeil dem weckenden Türmer den letzten Ton abriß. Die Melodie erklingt seit 500 Jahren.

Polen ist, so sagen die Polen selbst, konservativ. Hier ändert man sich nicht so rasch. Der Türmer wird weiterspielen. In Krakau, dem Juwel an der Weichsel.

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