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Der Uberlebenskünstler

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Stifter und der Bayerische Wald- Landschaft, Kunst und Thera- pie" - Unter diesem Titel stand das Internationale Adalbert-Stifter- Symposion in Freyung im Bayeri- schen Wald. Mehr als 50 Stifter- Forscher und -Freunde aus mehre- ren Ländern führte die im Mai von der Stadt Freyung gemeinsam mit dem Adalbert-Stifter-Institut Linz veranstaltete Tagung zusammen. Im Landkreis Freyung-Grafenau hat- te der in Mitteleuropa beheimatete Dichter, ein „Pendler" zwischen Böhmerwald, Oberösterreich, Wien und dem Bayerischen Wald, in fort- geschrittenen Jahren im Rosenber- gergut in Lackenhäuser Genesung von seiner Krankheit gesucht und dort am „Witiko" gearbeitet.

In der Erzählung „Der Waldbrun- nen", die in jener Landschaft am Fuße des Dreisesselberges wurzelt, wird „Freiung" namentlich ge- nannt. Dort schreibt Stifter: „... Und die Luft ist in den Höhen, die der Wald einnimmt, reiner,... daß sie eben so Fröhlichkeit und Ge- sundheit bringt wie das Wasser. Und wer beides, Fröhlichkeit und Gesundheit, verloren hat, der er- hält es wieder, wenn er von diesem Wasser trinkt und von dieser Luft atmet."

Den Auftakt zum Symposion bil- dete eine Stifter-Ausstellung im re- staurierten, ehemals fürstbischöf- lichen Schloß Wolfstein. In der Schau „Der Böhmerwald in alten Ansichtskarten" machte eine Col- lage besonders betroffen, in der 290 der nach 1945 zerstörten Orte durch Kreuze ausgewiesen wurden.

„Mir will scheinen, daß Stifter in den letzten Jahren so etwas wie ein Überlebenstraining in seinen Auf- enthalten durchführte. So werden wir Stifter als Überlebenskünstler zu betrachten haben", meinte Jo- hann Lachinger, der Leiter des Linzer Stifter-Instituts, bei der Eröffnung. Alfred Doppler, Inns- bruck, skizzierte in seinem Vortrag „Adalbert Stifter. Landschaft, Schicksal und Geschichte" die hi- storischen Voraussetzungen der Werke Stifters und widerlegte an Hand von Beispielen die Auffas- sung von der Harmlosigkeit der erbaulichen Geschichten. Die drei- bändigen Romane „Der Nachsom- mer" und „Witiko" habe Stifter gegen die Zeitverhältnisse geschrie- ben, das angestrebte Ziel der gro- ßen historischen Erzählung sei die Erlösung von einer Geschichte der Grausamkeit. Franz Baumer vom Bayerischen Rundfunk, München, betrachtete „Stifter im geistesge- schichtlichen Horizont seiner Zeit" und führte aus, daß Stifters bieder- meierliche Züge nur oberflächlich gewesen seien, und sich vielmehr sein naturwissenschaftlich geschul- tes Denken im poetischen Werk als eine „literarischeRelativitätstheo- rie" (Karlheinz Rossbacher) nieder- schlage. Auch sein „ sanftes Gesetz " als menschenerhaltende Maxime sowie seine einem ganzheitlichen Denken verpflichtete Naturpoesie seien in dieser Sicht „modern".

Ingeborg Stahlovä aus Preßburg gelangte in ihrem Referat „Stifters .sanftes Gesetz' als Inspirations- quelle zur Umwertung herkömmli- cher Vorstellungen über Natur und Gesellschaft" zu dem Schluß, daß Stifter trotz seiner Befangenheit in seiner Zeit daran glaubte, daß sich Gewalt und Krieg eines Tages erüb- rigen würden. Gleichsam als be- rührenden Beweis, daß Stifters „sanftes Gesetz" in unserer Zeit mit ihrem ökologisch und gesell- schaftlich gestörten Gleichgewicht von besonderer Relevanz ist, ver- wies Stahlovä auf die Art der Kon- frontation und Revolution in ihrem Land, die ihr den Namen die „sanf- te" eingebracht habe, „in der auch Stifters Denkmuster vom politisch mündigen, aufgeklärt handelnden Bürger seine Bestätigung fand... und daß sich dies in jenem Lande zugetragen hat, auf dessen Boden auch Stifters Wiege stand".

Karel Vecerca, Prag, sprach über Stifters Bedeutung „im tschechi- schen Bildungswesen der Gegen- wart". Er unterstrich, wie unver- zichtbar Stifter für die Germani- stik, die Hoch- und Mittelschulleh- rer sei. Hartmut Binder, Ludwigs- burg, ging der Frage nach, weshalb Stifters „Nachsommer" zu Kafkas Lieblingslektüre zählte. Er hielte es unter Berücksichtigung von Kafkas Leseverhalten sowie seiner Lebensverhältnisse in der Spätzeit für wahrscheinlich, daß ihn die Thematik des „Nachsommer" an- gezogen habe, weil sie ein eigenes Ideal beschrieb. Als formale Be- sonderheit kämen Strukturen hin- zu, die sich sowohl im „Nachsom- mer" wie in Kafkas Erzählwerk beobachten ließen.

Ging es in Wolf gang Wiesmüllers (Innsbruck) Beitrag um „Stifters Arbeit am ,Witiko'" als einem „Schreiben zwischen Flucht und Widerstand" um Flucht in den äs- thetischen Raum der Dichtung als Refugium und Widerstand gegen (zeit)geschichtliche Entwicklungen, so befaßte sich Fritz Peter Knapp, Passau, mit dem mittelalterlichen Herrschaftsideal, das im 19. Jahr- hundert wiederentdeckt und im „Witiko" aufgegriffen wurde. .

„Elegische Landschaften (als) Spiegelungen krisenhafter Exi- stenzerfahrung in Stifters frühen Böhmerwaldtexten" definierte Johann Lachinger nicht nur als Ausdruck eines biedermeierlichen „Weltschmerzes", sondern sieht sie im Verlust des gesicherten Lebens- raumes der Kinder- und Gymna- sialzeit wie seiner Jugendliebe Fanny bei gleichzeitiger Konfron- tation mit dem Großstadtleben begründet. Bezüge zwischen dem Thymostatischen in Stifters Werk und in der modernen Medizin stell- te Hans G. Zapotocky in seinem Referat fest.

ERRATUM: In der FURCHE 22/1990 ist uns auf der Feuilleton-Seite (12) ein bedauerlicher Irrtum unterlaufen: Hans Weigel hat selbstver- ständlich ein Buch von Herbert Pirker und nicht, wie fälschlich im Untertitel zu lesen war, von Peter Pirker besprochen. Wir ersuchen, das Ver- sehen zu entschuldigen.

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