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Der überforderte Staat

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Der Zustand des gegenwärtigen Staates ist charakterisiert durch steigende Staatsintervention bei sinkendem Vertrauen in den Staat, durch steigende Last an öffentlichen Abgaben bei zunehmendem Steuerwiderstand, durch eine sprunghaft ansteigende Staatsverschuldung bei steigender Unsicherheit der Arbeitsplätze, wachsende Umverteilung bei steigender Unzufriedenheit und durch eine rasch anwachsende Gesetzesflut bei einem in der Öffentlichkeit zunehmenden Gefühl, anonymen Apparaten immer schutzloser ausgeliefert zu sein, durch steigenden Anteil der öffentlichen Hand am Sozialprodukt, steigenden Anteil der Bürokratie an der Gesamtbeschäftigung.

Kurz: mit immer mehr Staat verbindet sich weniger Stabilität, weniger Gerechtigkeit, weniger Ordnung. Die Folgen sind mangelnde Regier-barkeit, Politikmüdigkeit, wachsende Staatsverdrossenheit und steigende Zweifel an der Legitimität staatlicher Aktivitäten. Es wird immer deutlicher empfunden: In dieser Richtung geht es nicht mehr weiter.

Die heutige Krise des Staates wurde durch seine Uberforderung ausgelöst. Es gibt kaum einen Bereich seiner Tätigkeit, in welchem vom Staat nicht viel mehr erwartet wird, als er jemals leisten kann. Teils werden seine Ziele zu hoch gesteckt, teils werden ihm zu viele, darunter auch widersprüchliche Zielsetzungen vorgegeben. Am deutlichsten kommt diese Überforderung in den meisten westlichen Demokratien in der Finanzkrise der öffentlichen Hand zum Ausdruck.

Auf die Frage, wie es weitergehen soll, werden, was die grobe Richtung betrifft, folgende Antworten gegeben: erstens noch mehr Staat, mehr Steuern und Beamte, um den Staat wieder in die Lage zu versetzen, allen an ihn gerichteten Anforderungen gerecht zu werden; zweitens weitgehende Abschaffung des Staates und Übernahme seiner Funktionen im selben Ausmaß durch „die Gesellschaft“; drittens Rückführung der Staatsfunktionen auf den „Minimalstaat“ und viertens Wiederbesinnung auf das Prinzip der Subsidiarität der Staatsfunktionen.

Ein Repräsentant der Etatisten ist in Österreich z. B. der sozialistische Abgeordnete zum Nationalrat Univ.-Pro f. Ewald Nowotny, der vorschlägt, die mit der Staatstätigkeit verbundenen Finanzierungsprobleme dadurch zu lösen, daß die Nationalbank die Staatsschulden zinsenfrei finanziert. Für noch mehr Staat durch noch mehr Verstaatlichung treten auch die Austromarxisten im heutigen österreichischen Sozialismus ein. Sie hatten die zentrale Bedeutung der Aufhebung von Löhnarbeit durch Vergesellschaftung des Privateigentums an Produktionsmitteln stets betont und dies auch für das Parteiprogramm der SPÖ gefordert.

Gegen eine Identifizierung von Wohlfahrtsstaat und Etatismus hat sich schon vor knapp zwei Jahrzehnten ein prominenter Vertreter des er-steren, Gunnar Myrdal, zur Wehr gesetzt. Seiner Meinung nach ist ein großer Teil der Staatsinterventionen die Folge unzureichender Koordinierung und Planung. Nach ihm sollte es möglich sein, detaillierte Regelungen der Bevölkerung selbst zu überlassen, ihren lokalen Gemeinden und Verhandlungen zwischen ihren Organisationen.

Für „mehr Gesellschaft“ statt „mehr Staat“ tritt auch die „Neue Linke“ ein, die sowohl Bürokratie wie auch Markt ablehnt und der ein überzeugender Mechanismus für die Allokation von Ressourcen und für eine Koordinierung der Entscheidungen in Staat, Betrieben und Haushalten fehlt.

Ähnlich sind verschiedene Vorschläge in dem seinerzeitigen „Problemkatalog“ für das neue Parteiprogramm der SPÖ von Univ.-Prof. Egon Matzner: Die großen Reformer des Sozialismus haben „die Rolle des Staates nicht zu Ende gedacht“. Er tritt für solidarische und kooperative Selbsthilfegruppen ein, die den Staat entlasten könnten.

Am weitesten gehen bei der Kritik des Umfangs der heutigen Staatstätigkeit die Befürworter des „Minimalstaates“. Sie billigen dem Staat nur einige eng umgrenzte Funktionen zu, wie den Schutz gegen Gewalt, Diebstahl, Betrug, oder die Durchsetzung von Verträgen. Sie verwehren dem Staat insbesondere, seinen Zwahgsappärat dazu zu “verwenden, „einige Bürger dazu zu bringen, anderen zu helfen“ (womit offenbar die gesamte sogenannte 2weite Einkommensverteilung, eine der tragenden Säulen der Sozialen Marktwirtschaft, abgelehnt wird!), oder dazu, den Menschen um ihres eigenen Wohles oder Schutzes willen etwas zu verbieten (z. B. Robert Nozick für die USA).

Der Staat hat in erster Linie die Aufgabe, die verfassungsmäßige Ordnung durchzusetzen, die Vertragspartner vor dem Vertragsbruch zu schützen und für die Bereitstellung öffentlicher Güter zu sorgen. Mit der theoretischen Grundlegung dieser Konzeption des „Limited Government“ oder „Free Enterprise“ sind auch Namen wie F. A. Hayek, Frank H. Knight, Milton Friedmann verbunden. Dazu zählt auch L. v. Mieses, dem der Etatismus in seinen beiden Gestalten suspekt ist: als Sozialismus und als Interventionismus.

Als vierte Richtung in diesem groben Raster sind diejenigen zu nennen, denen es um ein Neuüberdenkendes Wesens und der Funktion des Staates und um eine neue Zuordnung der Agenden geht, zu deren Bewältigung der Staat heute berufen und tatsächlich in der Lage ist. Damit wird an die abendländische Tradition einer gewissen kritischen Distanz zum Staat angeknüpft, die von einer realistischen Natur des Menschen ausgeht und daraus sowohl seine Verantwortung für sein eigenes Schicksal als auch allgemeine Ordnungsprinzipien für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ableitet.

Diese Naturrechtstradition wurde insbesondere in der christlichen Soziallehre entwickelt und stark herausgestellt. Für das durchgängige Organisationsprinzip dieser staats-und gesellschaftspolitischen Konzeption hat sich der Begriff „Subsi-diaritätsprinzip“ durchgesetzt. Diesem zufolge ist der Staat wohl die mit höchster Herrschaftsgewalt ausgestattete Gemeinschaft eines auf bestimmten Gebieten seßhaften Volkes zur allseitigen Begründung seines Gemeinwohls, ihm dürfen aber nur Aufgaben übertragen werden, die kleinere Gemeinschaften und insbesondere der einzelne selbst aus eigener Kraft nicht erfüllen können.

Das Subsidiaritätsprinzip bezeichnet Johannes Messner als das Rechtsfundament der Gesellschaft gegenüber dem Staat. Es bedeutet die prinzipielle Trennung von Staat und Gesellschaft. Diese Trennung gehört zu den Grundvorstellungen der freiheitlichen Demokratie.

Diesem Grundsatz wird die innerstaatliche Subsidiarität am ehesten gerecht: als Dezentralisierung aller in Frage kommenden Kompetenzen auf Länder, Gemeinden, staatlich eingerichtete Selbstverwaltungskörper wie Sozialversicherungseinrichtungen nach unten, aber, auch Abgabe von Zuständigkeiten nach oben überall dort, wo der souveräne Nationalstaat zur Meisterung überstaatlicher Probleme nicht mehr ausreicht, oder an supranationale Behörden, neue Organe übernationaler Kooperation, weltzentralbankähnli-che Funktionen des Internationalen Währungsfonds usw.

Hier verdient insbesondere der gegenwärtige starke Trend zur Regio-nalisierung besondere Beachtung: in den Ländern ohne föderalistische Traditionen zur Entlastung der Zentralbehörden, in Europa überdies durch die Entwicklung von Regionen über nationale Grenzen hinweg.

Die innergesellschaftliche Subsidiarität verlangt die Ausgliederung von Funktionen aus dem staatlichen Bereich auf den einzelnen, die Familie, den Markt (den Betrieb), auf berufliche und andere Selbstverwaltungskörper sowie die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften.

Die subsidiäre Gesellschaft ist eine pluralistische Gesellschaft.

Daniel Bell hat das Subsidiaritätsprinzip auf die einfache Formel gebracht: „Der Nationalstaat ist zu groß für die kleinen und zu klein für die großen Probleme.“ Der Staat ist nach Anwendung des Prinzips der Subsidiarität, wenn er sich also auf die Agenden konzentrieren kann, für die er am besten geeignet ist, ein starker Staat. •

Die Grenzen zwischen den drei aufgezeigten Alternativen, die dem herrschenden etatistischen Trend kritisch gegenüberstehen, sind unscharf. Zwischen dem Modell der Vergesellschaftung des Staates, der Konzeption des Minimalstaates und dem Lösungsvorschlag nach dem Ordnungsprinzip der Subsidiarität sind die Ubergänge fließend.

Die nächste österreichische Bundesregierung wird sich in erster Linie mit dem Problem des finanziell und sachlich überforderten Staates konfrontiert sehen. Vertreter aller dieser drei genannten staatskritischen Richtungen gibt es in allen drei politisch relevanten Parteien, in der einen mehr, in der anderen weniger. Auch in der eben im Wahlkampf siegreich gebliebenen sozialistischen. Werden sie die gestärkte Position ihrer Partei für ihre Vorstellungen nützen können?

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