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Der Unermüdliche

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Sooft ich das Märchenbuch zur Hand nehme, rührt es und bewegt es mich, denn auf allen Blättern steht vor mir sein Bild, und ich erkenne seine waltende Spur.” So sprach ein halbes Jahr nach Wilhelm Grimms Tod sein Bruder Jacob in der Berliner Akademie der Wissenschaften von jenem Buch, dessen Titelblatt ja bereits etwas von einem Märchen an sich hatte, denn es stammte von den

Brüdern Grimm, ohne uns zu verraten wie viele denn das eigentlich waren.

Es waren insgesamt sechs.

Zwei von ihnen schliefen zufolge der Bedrängnis in dem Witwenhaushalt als Knaben in einem Bett. Bis es dann so weit war, daß sie als anerkannte Männer der Wissenschaft mit getrennten Arbeitszimmern unter einem Dach wohnen konnten, hatten sie ihre „Nahrungssorgen”, die sie bis zu ihrer Lebensmitte nicht losließen, (ein Zitat von Jacob Grimm) durch Güter- und Nutzungsgemeinschaft zu lindern versucht.

Zweihundert Jahre später gelang es dem Nachruhm, die beiden Unzertrennlichen, Jacob, geboren vor zweihundert Jahren, am 4. Jänner 1885, und Wilhelm, geboren 1886, ein wenig auseinanderzuhalten. Und es ist sehr wohl anzunehmen, daß dem Älteren mehr Ruhmeszeilen zugemessen werden, mögen es auch nur sechs von den 156 Märchen sein, welche Jacob nacherzählt hat. Jacobs kritischer Geist aber war es, der über des Bruders erzählerischem Talent sanfte Kontrolle walten ließ, sodaß eine Textierung der Märchen gelang, welche das Zufällige und Getrübte der aufgestöberten Quellen läuterte, ohne sie ins phantasievoll Subjektive des Nacherzählers zu überhöhen.

Neben „Grimms Märchen”, die nicht von Grimm sind, sondern Funde im europäischen Kulturraum, gibt es das Märchen Grimm, das Jacobs Leben selber darstellt. Seit seiner Jugendzeit von der Dürftigkeit des deutschen Beamtenlebens heimgesucht, durch Standesvorurteile und Intrigen benachteiligt, zuletzt seiner prof essoralen Stellung in Göttingen beraubt, weil er nicht gewillt war, einen Verfassungsbruch stillschweigend zu erdulden, stand er, der unvergleichliche Kenner des deutschen Mittelalters, nunmehr als Mitglied des Parlaments in der Frankfurter Paulskirche 1848, wo über die deutsche Zukunft entschieden werden sollte: ein Jahrtausend

Reichsgeschichte lebendig im Bewußtsein eines lauteren, von allen Machtansprüchen freien Mannes.

Die Mißstände aufzeigend, wiegelte er nicht auf, sondern suchte im Sinn demokratischer Reform einen Weg der Zusammenarbeit. Manche seiner politischen Äußerungen haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt — ein seltenes Phänomen innerhalb der politischen Literatur —, so zum Beispiel, wenn er schreibt:

„Wer nicht eine von den paar Farben, welche die kurzsichtige Politik in Kurs bringt, aufsteckt, wer nicht... die Seelen der Menschen wie ein schwarz und weiß geteiltes Schachbrett ansieht, den hassen sie mehr als ihre Gegner.”

Jakobs politische Laufbahn endete bald. Es scheint, als wäre die Ursache für diesen Fehlschlag nicht so sehr auf Jacob Grimms Seite zu suchen, als vielmehr in der Mangelhaftigkeit und den verkrampften Fehlleistungen dessen, was sich in der Öffentlichkeit für demokratisches Bewußtsein hielt. Völlig verfehlt ist es, in diesem

„Germanisten” Jacob Grimm den Ähnherrn des Teutonismus zu sehen. „Ihr konntet Waffen holen aus meinen Büchern”, rief er den Deutschtümlern zu, denn „Ihr habt oft wenig gewußt von den Dingen, um die es mir geht...”

Worum es ihm wirklich gegangen ist, bewies auch sein Aufenthalt 1815 in Wien während des Wiener Kongresses. Sofort war er darauf aus, die Basis für seine Sammlung der vom Vergessen bedrohten Volkspoesie zu erweitern und die Ungarn und Slawen miteinzubeziehen. Die „dichtende Volksseele”, von der Jacob Grimm mit ebensoviel Ergriffenheit wie argumentierender Detailkenntnis zu sprechen wußte, war also ganz im Sinne Herders ein Geschenk aller Völker an alle Völker. Und noch drei Jahre vor seinem Tod sprach er von einem „einsichtbaren Vollgeheimnis”, das in Sprache und Sage besonders bei jenen Völkern zugänglich ist, denen „Bildung und Verbil-dung” mangelt.

Die andere große Leistung der Brüder, das deutsche Wörterbuch, ist zu Lebzeiten von Jacob Grimm nur bis zum „F” (und zwar bis zur „Frucht”) gediehen. Erst 1960 lag das Werk vor: 33 riesige Bände mit zusammen 35.000 Seiten oder 70.000 Spalten gefüllt. Als Wilhelm Grimm den Umfang des Unternehmens in einer akademischen Rede in Frankfurt am Main skizzierte, sagte er: „Das Wörterbuch soll die deutsche Sprache umfassen, wie sie sich in drei Jahrhunderten ausgebildet hat, es beginnt mit Luther und schließt mit Goethe. Goethe ist der Mittelpunkt des Wörterbuchs.”

Fazit dieser Methode: Wilhelm Grimm starb über dem „D”, und infolge des Ausuferns des „Geistes” mit Hunderten Seiten im Buchstaben „G” wäre dann fast das ganze Projekt eingestürzt.

Haben die beiden Brüder ihre hohen Talente hier nicht doch in einer das Rückgrat und den Sinn beugenden Wühlarbeit vergeudet? Die Wissenschaft sagt natürlich: Nein. Aber auch die künstlerische Literaturkritik muß sich dieser Meinung anschließen. In den Aufsätzen von Jacob Grimm, wie etwa „Uber das Altern” trifft man auf eine Ausdruckskultur, die - trotz gelegentlicher Skur-rilitäten - unvergleichlich bleibt, weil sie zur Voraussetzung hat, daß dem Schreiber das sich wandelnde Sprachbewußtsein von Jahrhunderten zur Nuancierung seiner Palette immer zur Verfügung stand.

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