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Der Unerschrockene

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Zwei Tage nach Andrej Sacharows Tod entschuldigte sich die Sowjetführung in aller Öffentlichkeit bei dem großen Toten für das grobe Unrecht, das ihm angetan worden war.

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Zwei Tage nach Andrej Sacharows Tod entschuldigte sich die Sowjetführung in aller Öffentlichkeit bei dem großen Toten für das grobe Unrecht, das ihm angetan worden war.

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„Alles, was Andrej Dimitreje-witsch tat, war von seinem Gewissen und von seiner profunden humanistischen Überzeugung diktiert.“ Dieser Nachruf wurde von der „Prawda“ veröffentlicht, jener Zeitung, die Sacharow eineinhalb Dekaden vorher mit Ladungen von Schmutz und Geifer besudelt hatte.

Hunderttausende aus allen Teilen des Sowjetreiches erwiesen dem Atomphysiker und Menschenrechtskämpfer im Moskauer Jugendpalast und im Leninstadion die letzte Ehre, leisteten so Abbitte für die Mitschuld durch Indifferenz, Feigheit oder Verkennung seines Anliegens, das sie doch selbst betrifft. Sie alle anerkennen ihn als das „Gewissen der Nation“, wie ihn der ungleiche Partner in der Opposition, Boris Jelzin, vormals Moskauer Parteichef, genannt hat.

Aus dieser seiner „profunden humanistischen Überzeugung“ hat Sacharow auf alle Vorrechte eines hochausgezeichneten Wissenschaftlers und Angehörigen des Establishments verzichtet und ist im Dienste des Volkes sein Golgotä hinaufgestiegen. Das Sowjetreich mag sich, wie die Einstellung zum Verstorbenen zeigt, grundlegend geändert haben, Sacharow blieb sich jedoch Zeit seines Lebens in härtester Folgerichtigkeit selber treu.

Mit Igor Tamm entwickelte der brillante Physiker die sowjetische Wasserstoffbombe, deren Besitz 1953 die Sowjetunion kurzfristig in Vorteil gegenüber den Vereinigten Staaten brachte. Letztlich führte aber gerade diese Erfindung zum offenen Bruch mit der Führung im Kreml. Die Bombe würde nach seiner Überzeugung in den Händen von unmenschlichen Diktatoren und undemokratischen Machtha-bern zur akuten Gefahr für die ganze Menschheit.

Daraus leitete sich Sacharows fester Glaube an Frieden, nukleare Abrüstung, Demokratie und intellektuelle Freiheit ab. Diese seine Ideale machten ihn zum Anwalt der politisch Verfolgten, zum Streiter für die menschlichen Grundrechte - und kraft seiner wissenschaftlichen und persönlichen Autorität zu „Breschnews persönlichem Dissidenten“.

Es war ein ungleicher Kampf: Sacharow, der scheinbar Machtlose, gegen die Allmacht von Staatsführung, Partei und Geheimdienst. Er wußte, auch sein Ansehen als Wissenschaftler, sein Ruf im Ausland als geistiger Führer des Dissi-dententums, konnten ihn auf Dauer nicht vor dem Zugriff der Obrigkeit schützen. Doch er lebte nach dem von ihm wiederholt zitierten Tschechow-Satz: „Wir müssen die Furcht aus uns herauspressen -Tropfen für Tropfen.“ Jedes Jahr zog Sacharow an der Spitze seiner kleinen Gefolgschaft von Unerschrockenen am „Tag der Verfassung“ zum Moskauer Puschkin-Denkmal, um schweigend für Ge-

(Votava)

fangene und Lagerhäftlinge zu demonstrieren.

Bei einer dieser Demonstrationen lernte ich Sacharow Anfang der siebziger Jahre kennen. Ich suchte ihn wiederholt in der kleinen, stets vom KGB bewachten Wohnung nahe dem Kursker Bahnhof auf, die zur Beratungsstelle für Hilfesuchende, zur Informationszentrale für Auslandsjournalisten über Menschenrechtsverletzungen geworden war. Zuletzt traf ich ihn 1978 bei den Schauprozessen gegen die Dissidenten Schtscharanski, Ginsburg und Orlow.

Wie vielen anderen fiel es auch mir schwer zu glauben, daß dieser außerordentlich bescheidene, äußerlich unscheinbare und dem Anschein nach weltverlorene Mann die Härte und den Mut besaß, es mit den Mächtigsten in seinem Staat aufzunehmen. Freilich ging die öffentliche Diffamierung („Verräter“, „Nestbeschmutzer“, „Handlanger der Kapitalismus“), besonders lautstark nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an Sacharow, ebensowenig spurlos an dem Wissenschaftler vorbei wie die wiederholten Anpöbelungen gegen seine Frau Jelena Bonner, und die Schikanen der Obrigkeit gegen Verwandte.

Nach Protesten gegen den Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan wurde Sacharow ins geschlossene Gorki verbannt. Es folgten sieben Jahre der Isolation, der Entbehrung, geistigen Folter, der Hungerstreiks - nicht um sich, sondern um anderen zu helfen -und der lebensgefährdenden Herzanfälle. Breschnew konnte seinen verhaßten Gegenspieler ins Exil schicken, nicht aber dessen Ideen und Ideale. Auch aus der Verbannung erhielt die Welt - selten zwar - seine Botschaft aus dem Untergrund von Gorki.

In dem berühmten Telefonat rief Kremlchef Michail Gorbatschow im Frühjahr 1986 den Geächteten persönlich nach Moskau zurück. Gorbatschow brauchte den Dissidenten, denn in Perestrojka ist wenig von Lenin, sehr viel aber von dem, wofür Sacharow gekämpft hat. Dem Leidensweg folgte der späte Triumph.

Wenn die Großen der Welt nach Moskau kamen, sprachen sie mit Gorbatschow, aber sie hörten auf Sacharow. Er war der erste, der in diesem Jahr vor dem neuen Parlament von Gorbatschow ans Rednerpult gebeten worden ist. Er lebte lange genug, um zu sehen, daß die von ihm gelegte Saat in anderen Nationen des Imperiums aufgegangen ist. Ernüchtert von Gorbatschow („Ein Staatsoberhaupt mit einer solchen Machtfülle in einem Ein-Partei-System ist purer Wahnsinn“) und vom schleppenden Fortgang der Demokratisierung enttäuscht, setzte der Politiker Sacharow zu neuen Initiativen an, um Pluralismus von Meinungen und Parteien zu erreichen.

Der Tod Sacharows hinterläßt in der demokratischen Opposition ein Vakuum, das keine andere Persönlichkeit zu füllen imstande ist. Aber das Vermächtnis des Toten, seine Ideale, die ihm wichtiger als das eigene Leben galten, leben weiter.

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