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Der unheilvolle Schicksalstag

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Mitten im Wahlkampf versammeln sich am 4. März National- und Bundesrat im Gedenken an einen Tag mit tragischer Bedeutung vor nunmehr 50 Jahren.

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Mitten im Wahlkampf versammeln sich am 4. März National- und Bundesrat im Gedenken an einen Tag mit tragischer Bedeutung vor nunmehr 50 Jahren.

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Am 4. März 1933 ereignete sich im Tempelbäu des Parlaments ein Vorfall, der für die weiteren Geschicke Österreichs tragische Bedeutung erlangte: Wegen des Streites über das politisch brisante Ergebnis einer namentlichen Abstimmung traten alle drei Präsidenten des Nationalrates zurück. Somit war niemand berechtigt, diese letzte ordentliche Nationalratssitzung in der Ersten Republik zu schließen oder die Volksvertretung zu einer neuerlichen Sitzung einzuberufen.

Natürlich hatte dieses Ereignis allein weder das folgende autori-

täre Regime noch den späteren Untergang der Republik Österreich zwangsläufig nach sich gezogen. Aber in einer Kette von Ursachen war es doch das entscheidende Glied:

Alle Gegner der parlamentarischen Demokratie konnten sich auf diese Selbstausschaltung der Volksvertretung berufen; infolge des Ausfalls des parlamentarischen Forums steigerten sich die Gegensätze bis zum Bürgerkrieg, und auf den Trümmern desselben triumphierte schließlich der Nationalsozialismus mit der Auslöschung Österreichs.

Nicht ganz zu Unrecht hat man die Erste Republik als „Staat wider Willen" bezeichnet, stand doch an deren Anfang das Gesetz vom 12. November 1918, das mit der programmatischen Deklaration begann: „Deutsch-Österreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt. Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik." Vor allem die wirtschaftlichen Schwierigkeiten schienen die Ansicht zu bestätigen, daß dieser traurige Rest der einstmals großen Monarchie Österreich-Ungarn allein nicht lebensfähig sei.

Man muß nicht Anhänger der marxistischen These sein, wonach der materielle Unterbau den geistig-ideellen Uberbau hervorbringe, um doch einen direkten Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen und den politischen Konflikten zu sehen.

Am 9. November 1930 hatte die Nationalratswahl den Sozialdemokraten 72, den Christlichsozialen 66, den Großdeutschen sieben, dem Landbund neun, dem Nationalen Wirtschaftsblock drei und dem Heimatblock acht Mandate beschert. Die darauf gebildete Regierung Ender verfügte noch über eine entsprechende parlamentarische Basis, um am 20. Mai 1931 ein Verbot öffentlicher Aufzüge von Selbstschutzverbänden und einzelnen Organisationen im ganzen Bundesgebiet auszusprechen.

Doch schon am 29. Mai bot Justizminister Schürft seine Demission an, was das Ausscheiden der Großdeutschen aus der Regierungskoalition bedeutete. Der Rücktritt der Regierung war schließlich die Folge.

Am 19. Juni betraute der Bundespräsident dann Seipel mit der Regierungsbildung. Dieser verhandelte mit sämtlichen Parteien des Nationalrates und schlug eine Konzentrationsregierung vor, die für einen bestimmten Aufgabenkreis und einen bestimmten Zeitraum gebildet werden sollte; die Sozialdemokraten lehnten jedoch ab, worauf es zum ersten Kabinett

Buresch kam, dem nochmals Schober vom Nationalen Wirtschaftsblock als Vizekanzler angehörte.

Aber schon im Jänner 1932 trat der Nationale Wirtschaftsblock wieder aus dem Kabinett aus, so-daß Buresch eine Minderheitsregierung aus Christlichsozialen und Landbund bildete, die sich bis Mai hielt.

Diesem Kabinett folgte am 20. Mai 1932 die 17. Bundesregierung der Ersten Republik unter Bundeskanzler Dollfuß, der sich wie sein Vorgänger auf die Christlichsozialen und den Landbund, überdies aber auch noch auf den Heimatblock stützte, was eine knappe Mehrheit von 83 der insgesamt 165 Mitglieder des Nationalrates ergab.

Am 1. März 1933 streikten die Eisenbahner wegen des Planes einer Gehaltsauszahlung in drei Raten. Da gegen die Streikenden disziplinare und andere Maßnahmen ergriffen wurden, verlangten die Sozialdemokraten eine außerordentliche Nationalratssitzung, die von Präsident Renner für Samstag, den 4. März 1933, um 15.15 Uhr einberufen wurde.

In dieser Sitzung wurden mehrere Anträge gestellt: und zwar einer von den Sozialdemokraten, der praktisch eine Totalamnestie forderte, ein zweiter von großdeutscher Seite, der für die Streikenden die gleiche Nachsicht verlangte, wie sie im Juli 1927 angewendet worden war, und schließlich einer von Kunschak und christlichsozialen Abgeordneten, der vorschlug, daß die Generaldirektion der Bundesbahnen das Ergebnis ihrer Erhebungen dem Handelsminister vorlegen sollte, damit entweder er selbst oder in wichtigeren Fällen die gesamte Regierung die endgültige Entscheidung träfe.

In namentlichen Abstimmungen wurde zuerst der sozialdemokratische Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt; hinsichtlich des großdeutschen Antrages verkündete Präsident Renner die Annahme mit 81 gegen 80 Stimmen, was die Sozialdemokraten mit Beifall und der Aufforderung an Dollfuß, zu demissionieren, quittierten.

In dieser aufgeheizten Stimmung entbrannte ein Geschäftsordnungsstreit darüber, ob es überhaupt sinnvoll wäre, auch noch den dritten Resolutionsantrag von Kunschak zur Abstimmung zu bringen.

Um sich mit den anderen Präsidenten zu beraten, unterbrach Renner nach einer von lärmenden Zwischenrufen unterbrochenen Debatte die Sitzung um 20.40 Uhr auf zehn Minuten. Er konnte sie aber erst 21.35 Uhr wieder aufnehmen und mußte zunächst bekanntgeben, daß bei der Abstimmung über den Antrag der Großdeutschen ein Fehler unterlaufen war:

Es handelte sich um eine namentliche Abstimmung, bei der zwei Ja- Stimmzettel auf den Sozialdemokraten Abram lauteten; für seinen Sitznachbarn, den ebenfalls sozialdemokratischen Abgeordneten Scheibein, fand sich kein Stimmzettel. Renner wollte auf Grund der Wahrnehmung von Beamten, daß beide Abgeordneten Stimmzettel abgegeben hätten, keine Änderung im Stimmenverhältnis vornehmen, sondern den zweiten Stimmzettel des Abgeordneten Abram einfach für dessen Sitznachbarn Scheibein gelten lassen.

Dagegen wandte sich — nach der Geschäftsordnung wohl zu Recht — der christlichsoziale Abgeordnete Buresch, früher Bundeskanzler und damaliger Landes hauptmann von Niederösterreich: Die namentliche Abstimmung sei ein streng einzuhaltender Formalakt, woraus sich ergäbe, daß von zwei Stimmzetteln gleichen Namens nur einer als gültig anerkannt werden dürfe; das Fehlen eines Stimmzettels könne nur bedeuten, daß ein Abgeordneter dieses Namens nicht gestimmt habe.

Das letztere Argument blieb allerdings nicht unbestritten, da nach der Geschäftsordnung eine „Stimmenthaltung" unzulässig war. Wer also an einer namentlichen Abstimmung nicht teilnehmen wollte, mußte den Saal verlassen haben.

Dem stand die Aussage von Beamten entgegen, daß der Abgeordnete Scheibein einen Stimmzettel abgegeben haben sollte. Um diesen Widerspruch zu umgehen, berief sich Buresch darauf, daß schon bei früheren Abstimmungen „Herrn vom Heimatblock keinen Stimmzettel abgegeben haben. Der Vorgang wurde nicht gerügt." Nach seiner Meinung hätte das Stimmenverhältnis auf 80 zu 80 berichtigt werden sollen, womit der großdeutsche Antrag nicht angenommen, sondern abgelehnt gewesen wäre.

„Wenn ein so großer Teil des Hauses den Entscheidungen des Präsidiums widerspricht", meinte Renner darauf, sei es ihm unmöglich, das Präsidium zu führen: „Ich lege meine Stelle als Präsident nieder."

Ramek, der als Zweiter Präsident den Vorsitz übernahm, schlug vor, die umstrittene Abstimmung zu wiederholen. Dagegen wandten sich sowohl Kunschak, der unter Hinweis auf die Geschäftsordnung auf Stimmengleichheit pochte, wie auch Seitz, der meinte, an dem von Renner verkündeten Abstimmungsergebnis gebe „es kein Makeln und keine Änderung".

Daraufhin legte auch Ramek seine Stelle als Präsident nieder, und Straffner, der Dritte Präsident, sah sich, den Vorsitz übernehmend, „nicht in der Lage, die Sitzung des Hauses weiterzuführen", und legte - um 21.55 Uhr am 4. März 1933 - „ebenfalls meine Stelle als Präsident nieder".

In der historischen Uberlieferung ist der Rücktritt der drei Präsidenten des Nationalrates vielfach so dargestellt worden, als hätten sie auf ihre Ämter verzichtet, um jeweils mit ihren Fraktionen mitstimmen zu können. Merkwürdigerweise haben dazu Publikationen gerade linker Autoren (Jaques Hannak, Oskar Helmer u. a.) beigetragen, obwohl der Vorwurf eines leichtfertigen Spieles mit dem zweithöchsten Amt im Staat ja gerade denSozi-aldemokraten Renner treffen mußte.

iNun steht zweifellos fest, daß die Regierungskoalition unter Dollfuß nur über die Mehrheit einer einzigen Stimme verfügte und die damalige Bestimmung der Geschäftsordnung, daß der den Vorsitz führende Präsident an Abstimmungen nicht teilnehmen durfte, diese Mehrheit immer dann verstärkte, wenn der Sozialdemokrat - also oppositionelle -Renner als Präsident die Sitzung leitete.

Die Überlegung lautete also, daß, wenn Renner zurücktrat, die Sozialdemokraten eine sichere Stimme mehr und im Falle des Vorsitzes des christlichsozialen Präsidenten Ramek die gegen den großdeutschen Antrag eingestellten Fraktionen sicher eine Stimme weniger gehabt hätten …

Daß dies eine den handelnden Personen nachträglich unterschobene Spekulation sein muß, ergibt sich aber aus zwei Tatsachen:

Erstens konnte Renner zur Zeit seines Rücktrittes weder damit rechnen, daß Ramek die Abstim-

mung wiederholen, noch daß er während einer solchen den Vorsitz beibehalten werde; zweitens aber hätte der erfahrene Sozialdemokrat Seitz, einst selbst Parlamentspräsident, bei parteitaktischen Überlegungen doch nicht die Wiederholung der Abstimmung verhindert. Aus schwerwiegenden geschäftsordnungsmäßigen Überlegungen aber trat er dem Versuch, eine abgeschlossene Abstimmung einfach zu wiederholen, mit dem pathetischen Zwischenruf entgegen: „Das kann nicht einmal der liebe Gott."

Daß in weiterer Folge auch die beiden anderen Präsidenten des Nationalrates ihr Amt niederlegten, geschah offenkundig auch nicht zur Wahrung des Stimmrechtes; vielmehr empfand offenbar jeder den Schwund an Autorität, der es unmöglich machte, aus der verworrenen Situation einen Ausweg zu finden.

Daß sie damit eine Selbstausschaltung des Nationalrates bewirkten, war ihnen im Augenblick größter Erregung offenbar ebensowenig bewußt wie die Tatsache, daß sie dadurch den Weg erst für das autoritäre Regime und in weiterer Folge für den Untergang Österreichs überhaupt mitbereitet hatten. Der Autor ist Parlamentsdirektor.

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