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Der Urlaubersilo von Jalta

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Bevor wir uns dem berühmtesten Badeort am Schwarzen Meer, Jalta, nähern, fährt unser Schiff an den kahlfelsigen Ufern der Krim entlang, Felsen, die langsam immer mehr Grünanlagen weichen. Zwischen den bewaldeten Hügeln schimmern die weißen Mauern von Villen aus der Zeit des Zaren, die heute als Lungensanatorien und Erholungsheime dienen.

Bereitwillige Matrosen machen die

Passagiere auf zwei dieser Paläste aufmerksam. Der eine steht auf einem steilen Felsen, den die Brandung umspült. Das romantisch anmutende Gebäude mit den blitzenden Fenstern und malerischen Türmchen trägt einen angemessenen Namen: das Schwalbennest. Man erzählt uns, daß es von einem reichen Mann für seine kranke Frau erbaut

wurde, der die Ärzte den Aufenthalt am Meer empfohlen hatten. Der zweite von den Matrosen gezeigte Palast steht, von hochgewachsenen Bäumen halb versteckt, im Hintergrund eines menschenleeren Strandes. Eine Wendeltreppe führt hinunter zum Meer, und für Bewohner, denen die steilen Stufen zu ermüdend sind, gibt es auch einen Aufzug, den ein gedeckter Gang mit dem Palast verbindet. Dies ist der Landsitz des

Chefs der Kommunistischen Partei, von Nikita Sergej Chruschtschow mit seinem heutigen Komfort ausgestattet.

Das Schiff nähert sich den weißen Villen des Kurortes, und der Besucher bemerkt überrascht, daß der Strand noch an anderen Stellen leer ist, ja, er wird sogar überwiegend nur von kleinen Gruppen sich auf

Liegestühlen räkelnder Badegäste benützt. Des Rätsels Lösung erfahren wir bald: der Strand ist für die Patienten aus den Sanatorien reserviert, auf dem öffentlichen Sandstrand dagegen liegen und sitzen die Menschenmassen dicht gedrängt.

Später machen wir uns mit der Atmosphäre des öffentlichen Strandes vertraut, wo die Sommergäste aus den Betriebs- und Gewerkschaftspensionen ihre Zeit verbringen. Der

kieselstein- und splitterreiche Boden ist kaum zu sehen, denn seine ganze Fläche ist mit Decken und Badetüchern bedeckt; das Wasser ist in der Nähe des Ufers trübe durch den von den vielen Kindern und überraschend zahlreichen Nichtschwimmern aufgewühlten Schlamm. Manch einer der Badegäste leidet an Sonnenbrand, denn Sonnenöl und Schutz-

creme scheinen hier unbekannt zu sein. Immer wieder fallen uns Männer mit braunen Körpern und weißen Beinen auf — es sind wohl Bau-und Straßenarbeiter, die schon braungebrannt hier ankamen; viele von ihnen, besonders die Älteren, sind reichlich tätowiert. Nirgends am Strand fände man eine Imbißstube oder einen Limonadenstrand — wer Durst hat, muß zu den Automaten auf der Promenade, aber auch die sind sehr bald leer, und niemand denkt daran, sie aufzufüllen.

Als Umkleidekabinen dienen einige zylinderförmige Gestelle, behangen mit einem geblümten Stoff, der in dgt Seebrise flattert und die Riesenbusen der russischen Frauen enthüllt. Von früh um sieben an fst der Strand überfüllt, aber zur Mittagszeit wird er fast menschenleer, denn dann bilden sich endlose Schlangen vor den Restaurants. Man wartet ebenso lange wie geduldig, bis drinnen ein Platz frei wird und man sich eine Portion Borschtsch, Schaschlik oder gebratene Leber bestellen kann; jedes dieser Gerichte wird mit einer gehäuften Beilage von Perlzwiebeln serviert. Der Kellner läßt lange auf sich warten, doch daran ist man gewöhnt.

Wenn die Sonne untergeht, ziehen sie alle, die den Tag am Strand verbrachten, zur palmengesäumten Strandpromenade hinauf. Hunderte, sogar Tausende mögen es sein, die auf dem staubigen Kiesweg hin und her wandeln oder sich bemühen, ein Plätzchen auf den ewig besetzten Bänken zu ergattern. Nach Anbruch der Dunkelheit ist im Automaten wieder einmal die Limonade ausverkauft. Aber auch die Läden sind

längst geschlossen und in der ganzen Stadt gibt es nichts zu kaufen.

Jemand erzählt uns stolz, daß mehr als eine Million Kurgäste im Jahr nach Jalta kämen. Es sind die tüchtigsten der Werktätigen, die auf diese Weise für ihre aufopfernde Arbeit belohnt werden. Nicht wer will, kann hierher reisen, sondern nur, wer etwas geleistet hat. Vom Hafen her spazieren die Urlauber zu Hunderten zum Stadtpark, an dessen Eingang ein großes, weißes Steindenkmal steht, dicht mit cyrillischen Bronzebuchstaben bedeckt. Hier wird Lenins Dekret über das Recht der Werktätigen auf Erholung zitiert; und Jalta Ist die Verwirklichung dieses Dekrets.

Der altersschwache Autobus kriecht langsam die steile Asphaltstraße hinauf. Er fährt an den letzten Häusern des ländlich aussehenden Provinzstädtchens vorbei. Diese Straße zeigt Jalta im Alltag. Die Leute kommen von der Arbeit, die Geschäfte sind voll von Frauen mit Einkaufstaschen, Großväter wärmen sich an der Sonne, Kinder spielen in den Höfen der niedrigen Häuser.

Nach einer halbstündigen Fahrt hält der Omnibus auf einem kleinen Platz mit Geschäften, einem Kiosk und einem Limonadeautomaten. Die schmale Straße führt zwar weiter, man muß aber zu Fuß gehen.

Ein unauffälliger Gittergang öffnet den Blick in einen Park, der — wenn auch ziemlich verwahrlost — herrschaftlich aussieht. Es ist noch zu erkennen, daß die Heckenzäune einst von Gärtnern gestutzt wurden, daß die Wege einst mit Kies bedeckt waren. Das herrschaftliche Aussehen

des Parks wird vervollständigt durch einen Tennisplatz hinter einem Drahtzaun. Das Spielfeld ist merkwürdig geschwärzt, als ob in der Saison hier niemand Tennis spielen würde.

Am Ende des Parks, der sich zum Meer hin senkt, liegt eine geräumige gelbe Villa. Der Haupteingang ist verschlossen, man betritt das Haus über die Dienstbotentreppe. Neben der Tür hängt ein schwarzes Brett mit organisatorischen Mitteilungen für die Gäste. Die Wände sind geschmückt mit den Bildern von Kosmonauten, mit Propagandaplakaten und Zeitungsausschnitten.

Dies ist ein Erholungsheim der Gewerkschaften. Auf den Parkwegen ist ab und zu eine Gestalt in blauem Trainingsanzug zu sehen. Den ersten Menschen, den ich antreffe, frage ich, ob das hier wirklich Livadia sei. Er bestätigt es mir.

Das also ist Livadia, wo im Februar 1945 die Konferenz stattfand, auf der sich Roosevelt, Churchill und Stalin in so folgenschwerer Welse über die Nachkriegsordnung Europas einigten. Der junge Mann im blauen Trainingsanzug weiß davon nichts. Er gibt zu, daß er von einer solchen Konferenz nie etwas gehört habe.

Ich stehe vor dem Gebäude mit einer gewissen Erschütterung. Ich sehe im Geist die drei Politiker. Es war ihr letztes Treffen. Zwei Monate später starb der hinfälligste und vertrauensseligste von ihnen; der zweite wurde kurz nach dem Krieg durch einen anderen Mann ersetzt, als in seiner Heimat die Opposition siegte. Der dritte herrschte noch acht Jahre.

In den Verhandlungspausen spazierten die drei auf diesen Wegen.

Und dort, vor diesen Säulen, ließen sie sich photographieren. Ich erkenne diese Säule wieder, von der Photographie, die berühmt geworden ist. In der Mitte Roosevelt im Umhang, rechts von ihm Churchill und links Stalin. Ich stehe dort, wo einst der Photograph stand und sage mir: hier war es.

Der Verhandlungssaal war wahrscheinlich dort oben, wo jetzt der Speisesaal ist, wo man Geschirrklappern hört, da gerade zum Abendessen gedeckt wird. Dort oben fiel jene Entscheidung, die Europa entzweischnitt. Es war der sowjetische Vorschlag, der sich damals durchsetzte.

Auf der grauen Wasserfläche ankerten damals wahrscheinlich Kriegsschiffe, aber hier oben war sicher auch damals Ruhe.

Oben im Speisesaal nehmen die ersten Urlauber Platz. Durch das Gebäude klingt das Pausenzeichen des Senders Moskau. Gleich gibt es Nachrichten.

Das also ist Livadia.

Ich dachte an den Mann im blauen Trainingsanzug, der nach arbeitsreichem Jahr in der Fabrik seinen sicher hartverdienten Urlaub hier in Livadia verbringt. Warum hat ihm niemals jemand von dieser Konferenz erzählt? Ich fragte mich, warum wohl diese Stelle, die ihre historische Rolle in der Welt spielte, so vergessen ist. Warum man in diesem Land, in dem soviel Wert auf Jahrestage und Denkmäler gelegt wird, an dem Hause nicht wenigstens eine Tafel mit der Inschrift angebracht hat: „Hier wurde Europa geteilt.“

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