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Der verdrängte Tod

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Alle Menschen müssen sterben, ‘ — vielleicht ich auch! So logisch i und alogisch, so unsentimental . und sentimental („selbstgenüßlich“) 1 leben wir. Es gibt nichts Sichereres ] als den gegenwärtigen Augenblick und . die Sekunde des Sterbens. Das wissen i wir. Und wollen es nicht wahrhaben. : Sterben und Tod sind Tat-Sachen. Sind sie auch jeden von uns betreffende geschichtliche Befunde? Mit den Tatsachen werden wir fertig i durch die vielfältigen Versicherun- : gen, die wir eingehen und monat- ] lieh bezahlen: Lebensversicherung, 1 Sterbegeld, dazwischen Versicherung i gegen Unfall, Brand, Wasser, Ur- : laubswetter usw. Gegen den Tod gibt es keine Absicherung. Tod ist • wie Geburt einsam eintretende Not- : wendigkeit. Raffiniert, wie wir sind, haben wir aber auch für Geburt und Sterben etwas erfunden: die Ge- burts- und die Sterbensfabrik in Form der Gebärklinik und der Kran- : kenhäuser (mit „Intensivstationen“), in der Form der Altersheime, der Kinderkliniken (mit Brutkästen). Le- • ben muß erhalten werden. Ganz ge- ! wiß. Über lebenswertes und nicht le- i benswertes Leben kann keiner ent- : scheiden: weder Vater noch Mutter, : noch Arzt.

Aber das ganze System des Lebens wird zum System des Überlebens. 1 Niemand will angesichts des Todes : leben. Niemand will mit dem siche- ! ren Tode, dem sicheren Sterben, ‘ leben.

Wenn man jung ist, ist das Sterben fern. Nur notgedrungen durch eine Krankheit kommt der junge Mensel; in die Nähe des Todes. Glaubt er daran? — Wird man älter, dann ‘ übersieht man, übergeht man das Sterbenmüssen: Lebensdrang und Todesangst sind gleich stark, — Wird man dann alt an Jahren, verbraucht, vertrocknet, ein wenig verdummt, dann fängt man an, den Tod zu verdrängen.

Der Tod wird in die Enge gedrückt. Er wird verengt durch die Angst. Angst wovor? Angst wofür?

Angst vor einem richtenden Gott? Vor Lohn oder Verwerfung? Angst vor der verheißenen Herrlichkeit Gottes und in Gott? Also letztlich Angst-Enge sowohl vor einer Gerechtigkeit wie vor einer neuschaffenden Liebe-Barmherzigkeit? Haben wir Angst vor Gott? Haben wir Angst für den Weiterbestand ohne Kenntnis seiner Art?

Die Todesangst: Ich werde mit mir selbst nicht fertig. So mag ich mich nicht, weil das So-Sein nicht meinem Bild von mir entspricht. Sein und Bild sprechen nicht die gleiche Sprache. Ich nehme mich nicht an. Ich bin für mich selbst nicht dank- bar-anerkennend. Der, der ich sein will, bin ich nicht; den, der ich bin, mag ich nicht.

Die Todesangst: Ich werde mit dem DU, mit den vielen DU, nicht fertig.

Die Liebe, die Freundschaft, die Gemeinde, die Gesellschaft, die Umwelt — all dies überfordert mich. Ich kann mich nicht aufgeben, nicht an andere verlieren, die mir (vielleicht) nichts wiedergeben. Ich habe die Liebe, das Leben nicht gelernt. Niemand hat mich gelehrt, wie man liebt und warum. Falls Lieben einmal gelang — warum? Falls ich es nie konnte — warum? Ist der eine zuviel? Sind die vielen zuviel? Ich kann mich nicht bewahren und hingeben. Ich kann mich nicht ein- ordnen und bei mir selbst bleiben. Das WIR ängstigt mich zu Tode!

Die Todesangst: Ich werde mit der Zeit nicht fertig. „Zeit“ ist sowohl „Uhr“ wie „Ich“: Vergänglichkeit und Bleiben. Der Dualismus von Geist und Körper, von Seele und Leib stecht seit Jahrhunderten in uns. Warum wurden wir Okzi- dentalen nie ganz und nie eins für uns selbst? Wir können die Jetztzeit und das Jetzt-Ich nicht erfahren, nicht leben.

Person-Sein, das heißt bewußtes Ich und überformendes Selbst, das ist uns selten erlebbar. Person: die ins Herz gesammelte Lebenszeit (vorgeburtlich, als Säugling, als Heranwachsender, in Reife, im abnehmenden Alter) entgeht uns. Das je weilige Ich und dazugehörige jeweilige Jetzt können wir nicht zusammenfügen. Wir haben bloße, nackte Angst um die „Seele“, um den „Leib“: was wird?! Glauben wir an unser ganzheitliches einheitliches Person-Sein?

Die Todesangst: wir werden mit Schuld und Sünde nicht fertig. Gehört das Sterben, gehört der Tod wirklich ins Naturgesetz? Frage aus der biblischen Sicht her: Könnten Tod und Sterben nicht aus der geschichtlichen Tat der — biblisch in der Genesis beschriebenen Art — „Sünde“ gekommen sein? Sünde ist Beginn; ihre Folge ist der Tod. Wie Gott sein zu wollen — das war der Beginn. Der Neubeginn war, daß der eine, der Gott war und ist, nicht wie Gott auftreten wollte und darum in den Tod sich warf — also das Gegenteilige, das Antipo-

dische war und tat: damit hat ER den Tod überwunden — ihm einen neuen Sinn gegeben. Der Christus- Sinn des, Todes ist die Auferstehung.

Dip Todesangst: wir werden mit „Gott“ nicht fertig. Es ist schwer, Gegenwart und Anwesenheit zu unterscheiden. Schwer, weil wir es — unbewußt — eigentlich nicht wollen. Der anwesende Gott ist hier und ist da und ist jetzt und ist ganz und ist eins und ist wesend. Er ist gesichtslos, unsichtbar, ist todlos, ist grenzenlos und maßlos, ist stark. Er IST Leben. Aber ER ist Leben, das Wir nicht bewußt miterleben, sondern im Glaubensbewußtsein. ER ist da — aber nicht in Sinnen, Vorstellungen, Gefühlen, Begriffen erfahrbar. ER ist Ferne: Anwesenheit in Ferne. Wer hält IHN aus? Es sei denn der Beter der Stille. Der Beter im Schweigen.

Vielfach und aus vielen Gründen verdrängen wir den Tod. Morgen finden wir dafür einen neuen Grund. Warum nur? Sterben und Tod sind „erkünstelt“ — sie müßten nicht sein. Aber da sie nun sind,

sollten wir mit ihnen leben: im Angesicht des Sterbenmüssens, in der Sicherheit des Todes. Bis wir zur Größe eines hl. Paulus kommen und sagen wollen „Mori lucrum — Sterben ist ein Gewinn“ müssen wir viel Stille, viel Schweigen, viele religiöse Erfahrungen gemacht haben, viele einsame und gemeinsame Gebete laut und leise sprechen, singen, meinen.

„Tod, wo ist dein Sieg?!“

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