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Der vergötterte Krüppel

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Nach und nach wird auch das Prosawerk des großen Erneuerers der Lyrik, Guillaume Apollinaire(1880- 1918), dem deutschen Leser zugänglich. Der„reichste, begabteste, ergreifendste Dichter Frankreichs". wie er von Gaetan Picon genannt wurde, erweist sich auch als Erzähler als Vertretereines neuen Spiritualismus. Wir entnehmen seine Novelle dem Band,,Der gemordete Dichter" (Limes-Verlag, Wiesbaden).

An einem Frühlingsmorgen explodierte ein Automobil, das auf dem Wege von Paris nach Cherbourg war, in der Gemeinde Chatou auf der Grenze nach Vėsinet. Die beiden Reisenden, • die in dem Coupe saßen, wurden getötet. Den Chauffeur zog man halbtot heraus; er blieb drei Monate lang bewußtlos; und als er endlich in einem Wägelchen, das von seiner Frau geschoben wurde, das Krankenhaus verlassen konnte, fehlten ihm das linke Bein, der linke Arm, das linke Auge, und er war auf dem linken Ohr taub geworden.

Von nun an lebte er in einem Häuschen, das er nahe dem Meer bei Toulon besaß. Er konnte das dank einem kleinen Vermögen, das ihm aus der ausbezahlten Versicherung zugefallen war. Da die Narben, die durch die Amputation der Glieder entstanden waren, noch immer schmerzten, wares ihm unmöglich, ein Holzbein oder einen künstlichen Arm zu tragen, und innerhalb weniger Wochen hatte er sich daran gewöhnt, zu hüpfen anstatt zu gehen.

Die Nachbarn und die Passanten schauten neugierig auf den Krüppel, der beim Spazierengehen Seil zu springen schien. Und solcher Tanz verlieh seinem Geist eine derartige Lebendigkeit, daß sich der Ruf seines Verstandes, der Schlagfertigkeit seiner Antworten, der Eleganz seiner Scherze rasch verbreitete. Man kam, um ihn zu sehen, um ihn auszufragen, nicht nur aus Toulon, sondern auch aus den umliegenden Dörfern. Bald begriff man, daß dieser Mann, mit Namen Justin Couchot, dem man den Beinamen „Der Ewige“ zu geben nicht zögerte, in seinen linken Gliedmaßen jeglichen Zeitbegriff verloren hatte.

Die drei Monate, während deren er bewußtlos gewesen war, hatten in ihm jede Erinnerung an das Leben getilgt, das vor dem Unfall, dem er verstümmelt entkommen war, gelegen hatte. Und wenn er den Gebrauch der Sprache, die er um sich herum hörte, teilweise auch wiedergefunden hatte, so war es ihm jetzt doch unmöglich, die verschiedenartigen Bestandteile, aus denen seitdem seine Existenz bestand, miteinander zu verbinden.

In der Tat ist die Annahme unmöglich, daß sie ihm simultan erschienen seien, und das einzige Wort, das in der Gedankenwelt von Menschen, die an. die Idee der Zeit gewöhnt sind, das wie-* dergeben könnte, was sich im Gehirn von Justin Couchot abspielte, ist das der Ewigkeit. Seine Handlungen, seine Gesten, die Eindrücke, die an sein Ohr, sein einziges Ohr, drangen, schienen ihm ewige zu sein, und seine einsamen Gliedmaßen waren unfähig, ihm die Verbindung zwischen den verschiedenen Lebensbeugungen zu schaffen, wie sie zwei Beine, zwei Arme, zwei Augen, zwei Ohren in dem Geist normaler Menschen hervorrufen und woraus der Zeitbegriff hervorgeht.

Welche groteske Verstümmelung, die verdiente, daß man sie göttlich nannte!

Seine Popularrität nahm von Tag zu Tag zu, und er gewöhnte sich daran, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen. Wenn schönes Wetter war, ging er hüpfend aus, hob sich zum Firmament, wo man Gott vermutet, dem er geistig glich, und fiel sogleich auf die

Erde zurück, eine Gottheit ohne Macht, die eingekerkert in einen kranken Körper und so schwach war, daß einen das Mitleid packte. Und wenn man ihn anrief, um ihn etwas zu fragen, dann hielt er an und blieb wie ein Stelzvogel stundenlang auf seinem Bein stehen.

Man fragte ihn: „He, du Ewiger, was hast du gestern getan?“

Er antwortete:

„Meine Kinder, ich. zeuge das Leben. Ich will, daß Licht sei und die Dunkelheit sich in ihrer Nähe hält, aber das Gestern ist nichts für mich, auch nicht das Morgen, und nichts existiert außer dem Heute.“

Und er war so tief im Einklang mit der Natur, daß sie ihm zu einer Folge seines Willens wurde, dem das Ereignis ohne Unterlaß antwortete, ohne daß ein Bedauern oder ein Wunsch in ihm aufkam.

Eine schöne junge Frau tat ihm eines Tages schön:

„Ewiger, was denken Sie von mir?“ Er sagte ihr:

„Ein millionenfaches Wesen bist du, jeder Größe und mit vielen Gesichtern: des Kindes, des jungen Mädchens, der Frau und der Alten, ihr lebt, und du bist tot, ihr lacht und ihr weint, ihr liebt und ihr haßt, und du bist nichts, und ihr seid alles.“ "

Ein Politiker wollte wissen, welcher Partei seine Sympathien gehörten:

„Allen“, antwortete der Ewige, „und keiner, denn sie sind wie das Dunkel und das Licht, und sie müssen zusammen auskommen.“

Einmal erzählte man ihm die Geschichte Napoleons:

„Verdammter Bonaparte!“ schrie Justin Couchot. „Er hört und hört nicht auf, Schlachten zu gewinnen, geschlagen zu werden und in Sankt Helena zu sterben.“

Und als ihn jemand, erstaunt, über den Tod ausfragte, ging er in kleinen Sprüngen von dannen und sagte dabei:

„Worte, nichts als Worte! Wie wollt ihr sterben? Man ist, das genügt, man ist wie der Wind, der Regen, der Schnee, Napoleon, Alexander, das Meer, die Bäume, die Städte, die Flüsse, die Berge.“

(Deutsch von Walter Widmer und Paul Noack)

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