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Der Vermittler des „guten Deutschen"

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Nachrufe beim Tod eines Politikers haben sehr oft die Eigenart, das politisch Kontroverse und Kantige in den Hintergrund treten und dafür umso mehr die hellen Seiten in dessen Leben hervorscheinen zu lassen. Dies war auch anläßlich des Todes von Willy Brandt in der letzten Woche so, obwohl seine Politik viel Widerspruch erhielt. In seinem Leben spiegelte sich wie bei kaum einem anderen Politiker die deutsche Geschichte und das deutsche Schicksal dieses Jahrhunderts wider.

Im letzten Friedensjahr vor dem Ersten Weltkrieg in Lübeck geboren, bekam er noch frühkindliche Eindrük-ke von der Kaiserzeit mit. Seine entscheidende politische Prägung erhielt er in der Sozialdemokratie der Weimarer Republik. 1933 erfolgte die Emigration nach Norwegen, 1940 dann die nach Schweden. Die Jahre dort waren für ihn, aber auch für den dort ebenfalls sich aufhaltenden Bruno Kreisky, entscheidend. Vom Gesellschaftsmodell der schwedischen Sozialdemokratie waren beide tief beeindruckt.

Willy Brandt kehrte 1947 nach Deutschland zurück und stieg relativ bald die politische Karriereleiter empor: 1949 Mitglied des ersten deutschen Bundestages, 1953 Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, 1957 regierender Bürgermeister von Berlin (bis 1966), 1961 und 1965 vergeblicher Kanzlerkandidat der SPD, 1964 SPD-Parteivorsitzender (bis 1987), 1966 Außenminister in der Großen Koalition unter Kiesinger, 1969 Bundeskanzler einer sozialliberalen Koalition mit der FDP (bis zu seinem Rücktritt 1974 nach der Spionage-Affäre) und 1976 Präsident der Sozialistischen Internationale als

Nachfolger Bruno Pittermanns.

Willy Brandt war neben Konrad Adenauer sicherlich die prägendste Gestalt der deutschen Geschichte nach 1945. Bereits in der von den Linken heute oftmals als „verzopfte" oder „schreckliche Zeit" klassifizierten Adenauer-Ära begann sein Stern aufzugehen. Die schwierigen Berliner Jahre 1953 und 1961 ließen seine staatsmännischen Talente erahnen. Auf der Grundlage des Godesberger Programms führte er die SPD aus dem 30 Prozent-Keller hinaus, zuerst in die Regierungsmitverantwortung und dann zur bestimmenden politischen Kraft in Deutschland für 13 Jahre. Die Aufbruchsstimmung der späten sechziger Jahre, die ein positives Meinungsklima für Veränderung und Reformen schuf, nützte er geschickt für sich aus. Der bereits historisch gewordene Ausspruch „Mehr Demokratie Wagen" in seiner ersten Regierungserklärung signalisierte für viele eine Hoffnung.

Obwohl ohne Zweifel entschiedener Antikommunist, Atlantiker und „deutscher Patriot", wie „Die Welt" ihren Nachruf überschrieb, entwik-kelte er in einer Rasanz die deutsche Ostpolitik mit ihren Verträgen mit der Sowjetunion, Polen und der DDR. Ein historisches, sinnfälliges Bild wird zweifelsohne sein Kniefall im Warschauer Ghetto bleiben. Doch diese seine Ostpolitik entfachte eine harte innenpolitische Kontroverse mit der oppositionellen CDU/CSU, wobei es nicht nur um völkerrechtliche Fragen ging, sondern auch um eine unterschiedliche politische Auffassung vom Umgang mit der kommunistischen Staatenwelt.

Die Ereignisse der Jahre 1989 und folgende werden sicherlich in einer späteren historischen Schau zu einer neuen Bewertung führen. Hat die Ostpolitik Brandts mit ihrer unter anderem De-facto-Anerkennung der DDR und Appeasement-Haltung zu einer Stabilisierung der kommunistischen Regime und damit zu ihrer Lebensverlängerung geführt? Oder hätte eine entschiedenere Haltung des Westens ab 1969, so wie sie ab 1982

mit ihrem Nachrüstungsbeschluß vorexerziert wurde, schon früher zum Zusammenbruch des Kommunismus geführt? Oder war diese Ostpolitik, die auch mit für den KSZE-Prozeß verantwortlich war, auch eine Ursache für die Destabilisierung des kommunistischen Machtbereichs?

Von der Beantwortung dieser Fragen, die wahrscheinlich noch Generationen von Historikern beschäftigen wird, hängt das endgültige Urteil über Brandts politisches Werk ab.

Der späte Brandt zeigte aber auch andere Züge. Im Gegensatz zu großen Teilen seiner Partei setzte er 1989 voll auf die deutsche Einigung. Und wie 1969 sollte wiederum ein Zitat von ihm Geschichte machen: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört."

In diesem Sinne unterstützte er Helmut Kohl, der zu Brandt weitaus bessere persönliche Beziehungen als etwa zu Helmut Schmidt oder Hans-Jochen Vogel besaß.

Willy Brandt war ein Politiker, der Visionen vermitteln konnte. Das war sein Charisma und einer der wesentlichen Gründe für seinen Erfolg. Ihm fehlte aber oft in entscheidenden Situationen jene Pragmatik eines Konrad Adenauer, bei dem das Visionäre immer in die Bahnen der Durchführbarkeit gelenkt wurden.

Zu den wesentlichen Unterschieden zwischen der österreichischen und der deutschen Sozialdemokratie gehört deren Verhältnis zu Kirche und Religion. Als Willy Brandt 1969 seinen Amtseid vor dem Bundestag ablegte, war es für ihn selbstverständlich, das „So wahr mir Gott helfe!" anzufügen. Und somit konnte die deutsche Sozialdemokratie ihre Wählerschaft weit in überzeugt christliche Kreise, vor allem protestantische, erweitern. Willy Brandt prägte die deutsche und europäische Politik dreier Jahrzehnte und vermittelte im Ausland das Bild eines „anderen Deutschen". Gerade in der gegenwärtigen Situation der Bundesrepublik mit ihren Irritationen im Einigungsprozeß und teilweiser Radikalisierung wird seine Person als Symbol der Versöhnung und als Ratgeber wie Mahner fehlen.

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