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Der Wähler steht plötzlich allein

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Dieser Wahlkampf war eine Farce, fast eine Beleidigung denkender Wähler. Er war offensichtlich auf die Betäubung unkritischer Wähler angelegt. Was haben die Parteien den Wählern nicht alles versprochen! Ihre Warenkataloge erinnerten an den Ausverkauf der großen Warenhäuser. Über die Fragen aber, auf die es ankommt, schwiegen sie meistens. Aus Berechnung, aus mißverstandener Opportunität. Dabei hätten die Wähler gerade hier so manche Auskunft vor ihrer Wahlentscheidung dringend gebraucht. Die Zahl mobiler, also kritischer Wähler wächst auch in Österreich unaufhörlich. Es sind heute 70.000 bis 90.000 Wähler, die eine Nationalratswahl in Österreich entscheiden, aber die Wählermobilität betrug 1970 mehr als das Dreifache dieser Zahl. Diese Wähler brauchen eines: echte Information. Und gerade das hat man ihnen vorenthalten wollen.

Es war das Verdienst des Vizekanzlers und des Vizepräsidenten des ÖGB, Ing. Häuser, in diese Mauer des Schweigens im letzten Augenblick eine Bresche geschlagen zu haben. Sein doppelter Vorstoß — erstens sein Eintreten für weitere Verstaatlichungen, zweitens sein offener Angriff auf die FPÖ, die er der Gewerkschaftsfeindlichkeit bezichtigte — zerriß einen Nebelvorhang. Es gibt also doch noch’ auch andere Meinungen in der Sozialistischen Partei als die jeweilige Meinung des Parteivorsitzenden, die dieser mit so bewundernswerter Eloquenz vertritt! Und es gibt also noch ernst zu nehmende Anhänger der Verstaatlichung oder der „Vergesellschaftung der Produktionsmitteln“, auch über die Verstaatlichungen der ersten Nachkriegszeit hinaus. Noch sind nicht alle Ideologien und Überzeugungen über Bord, und es rühren sich auch noch die Gegner einer von Bundeskanzler Dr. Kreisky bevorzugt angestrebten rot-blauen Koalition. Daß es solche Gegner der rotblauen Koalition bei den Sozialisten innerhalb und auch außerhalb des Gewerkschaftsbundes gibt, war bekannt. Neu war die Vehemenz und die direkte Art der Stellungnahme, und daß sie vom Vizekanzler der Regierung kam. Man erinnerte sich: „Kreisky und sein Team“…

Der doppelte Vorstoß des Vizekanzlers Häuser kam aber zu spät. Und er deutete etwas nur an, worüber man gerne mehr erfahren hätte. Dazu reichte aber auch die Zeit nicht mehr, außerdem folgten so viele Dementis und beschwichtigende Äußerungen, daß die Wähler anderes als bloße Andeutungen nicht mehr erfahren konnten. Sie standen da, verwirrter und unwissender als zuvor. Das war der Zusammenbruch des Wahlkampfes.

Einiges ist allerdings bei den einmal stutzig gewordenen Wählern doch vielleicht noch hängengeblieben. Es mußte auffallen, mit welcher Schnelligkeit sich Bundeskanzler Dr. Kreisky bemühte, die Forderung Häusers nach weiteren Verstaatlichungen als „persönliche Auffassung“ des Vizekanzlers abzutun, als könnte ein Politiker, der so hohe Schlüsselpositionen einnimmt, in so zentralen Fragen der Politik seiner Partei eine bloß private Meinung äußern. Diese Argumentation Doktor Kreiskys zeugt von einer gewissen Unsicherheit. Und es wäre berugi- gender gewesen, wenn er die in der

SPÖ vorhandenen Meinungen und Kräfteverhältnisse offen dargelegt hätte. Hier nur von privaten Meinungen zu reden, sieht ein wenig nach Mißachtung Andersdenkender aus oder aber ist es ein Versuch, die Öffentlichkeit zu beschwichtigen. Beides hätte in einer Demokratie, die transparenter zu machen gerade Bundeskanzler Dr. Kreisky immer wieder versprach, keinen Platz.

Der Bundeskanzler sagte noch, sein Regierungsprogramm sehe keine weiteren Verstaatlichungen in der kommenden Legislaturperiode vor. Das ist mit dieser Einschränkung sicher wahr, erfaßt aber ebenso sicher nicht das ganze Problem, das denkende Wähler interessieren muß.

Das Wort Macht wies der Bundeskanzler in seinem Schlußwort nach der Fernsehdiskussion mit ÖVP- Obmann Dr. Schleimer, in der auch die Verstaatlichungsfrage in der oben angedeuteten Form zur Sprache kam, weit von sich. „Solche Ausdrücke“, sagte er, „sind in einer Demokratie nicht angebracht.’ Wer die Mehrheit hat, trägt die Verantwortung und wird kontrolliert. Machtzusammenballung gibt es nicht wie in einer Diktatur; der Macht sind Schranken gesetzt.“

All das ist wahr, trotzdem ist es notwendig, daß auch in einer Demokratie, wo dies noch möglich ist, die Frage nach der Verteilung und der Kontrolle der Macht unentwegt gestellt wird. Dabei ist es wichtig, zu wissen, daß die Kontrolle der Macht auch in einer Demokratie gar nicht so einfach ist. Es gibt anonyme Mächte, und selbst die sichtbare Macht, die der Regierung, kann von der parlamentarischen Opposition nur unvollkommen und nur in Ausnahmefällen wirksam kontrolliert werden.

Wie unlängst ein Kenner der parlamentarischen Verhältnisse sagte, kann zum Beispiel die Opposition selbst dann, wenn der eine oder der andere Minister eine an ihn gerichtete Frage über die Vollziehung nicht oder falsch beantwortet, eine konkrete, richtige Antwort nicht erzwingen und die Richtigkeit der Angaben nicht überprüfen. Darüber aber sprach der Bundeskanzler nicht.

Nach dem 10. Oktober wird vieles möglich sein, und das meiste davon ist, infolge mangelhafter Information, noch gar nicht absehbar. Die Alleinregierung der SPÖ, einer Partei, die offenbar gar nicht so ideologiefrei und modern ist und mit ihrem Vorsitzenden gar nicht so konform gehen dürfte, wie dies die Wahlpropaganda den Wählern einreden wollte: das ist die eine Möglichkeit. Eine kleine Koalition ungleicher Partner, vielleicht mit Fußangeln und Erpressungsversuchen, ist eine andere. Eine verbesserte Neuauflage der großen Koalition, mit mehr Transparenz und ergänzt von mehr innerparteilicher Demokratie: das ist die Möglichkeit, welche heute die ÖVP den Wählern offeriert. Diese Form der Regierung hätte unter anderem die wirksamere Verteilung und damit Kontrolle der Macht für sich, auch die bessere Chance für sachgerechte Problemlösungen. Der Wähler steht nun allein da, er muß den Informationsnotstand mit seiner kritischen Vernunft überwinden. Am 10. Oktober hat er auf Jahre hinaus die letzte Gelegenheit dazu.

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