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Der Westen ist heute kein Vorbild mehr!

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Die Rede Alexander Solschenizyns vor der Harvard-Universität im Juni belebt noch immer die internationale Diskussion. Was hat der berühmteste Ostflüchtling dort eigentlich gesagt? In keiner österreichischen Zeitung war dies im Wortlaut zu erfahren. Die FURCHE möchte mit dem folgenden Textauszug eine Leserdiskussion anregen.

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Die Rede Alexander Solschenizyns vor der Harvard-Universität im Juni belebt noch immer die internationale Diskussion. Was hat der berühmteste Ostflüchtling dort eigentlich gesagt? In keiner österreichischen Zeitung war dies im Wortlaut zu erfahren. Die FURCHE möchte mit dem folgenden Textauszug eine Leserdiskussion anregen.

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Ein Verlust an Mut ist vielleicht das spektakulärste Charakteristikum, das ein ausländischer Beobachter heute im Westen feststellen kann. Die westliche Welt hat ihre Zivilcourage verloren, als Ganzes und jeder für sich, in jedem Land, jeder Regierung, jeder politischen Partei und natürlich in den Vereinten Nationen.

Besonders merkt man diesen Verfall an Mut bei den herrschenden Gruppen und in der intellektuellen Elite, was zum Eindruck eines Verlustes von Mut in der gesamten Gesellschaft führt. Natürlich gibt es viele couragierte Einzelpersonen, aber sie beeinflussen das öffentliche Leben nicht entscheidend. Politische und

intellektuelle Bürokraten legen Depression, Passivität und Verwirrung in ihren Handlungen ah den Tag.

Dieser Verfall an Mut wird noch unterstrichen durch gelegentliche Ausbrüche von Zorn und Inflexibilität auf Seiten derselben Bürokraten, wenn sie mit schwachen Regierungen und schwachen Staaten zu tun haben, die niemand unterstützt. Aber schweigsam und gelähmt werden sie, wenn sie es mit mächtigen Regierungen und drohenden Machtapparaten zu tun haben, mit Aggressoren und internationalen Terroristen. Müssen Wir hinzufügen, daß seit alten Zeiten ein Verfall von Mut immer als der Anfang vom Ende gewertet worden ist? ...

In den letzten Jahrzehnten hat der technische und soziale Fortschritt die Verwirklichung des Wohlfahrtsstaates möglich gemacht. Jeder Bürger hat die ersehnte Freiheit erhalten und materielle Güter in einem Ausmaß und einer Qualität, die theoretisch jedem jenes Glück im moralisch minderwertigen Sinn gewährleisten sollten, an das wir uns in diesen Jahrzehnten gewöhnt haben.

Aber ein psychologisches Detail haben wir dabei übersehen: Das Ständige Verlangen nach noch mehr Dingen und einem noch besseren Leben und der Kampf darum prägt vielen westlichen Gesichtern Sorge und sogar Depression auf, obgleich

es üblich ist, dergleichen Gefühle zu verbergen. Ein aktiver und harter Wettbewerb durchdringt alle menschlichen Gedanken, ohne diese freier Entfaltung zu öffnen...

Aber auch die Biologie kennt die Erfahrungstatsache, daß zur Gewohnheit gewordene äußerste Sicherheit und äußerstes Wohlergehen für einen lebendigen Organismus kein Vorteil sind. Heute beginnt das Wohlergehen im Leben der westlichen Gesellschaft seine gefährliche Maske abzulegen.

Die Grenzen der Menschenrechte bestimmen sich durch ein System von Gesetzen; solche Grenzen sind sehr weit gezogen. Die Menschen im Westen haben eine große Fertigkeit entwickelt, ihre Gesetze anzuwenden, zu interpretieren und zu manipulieren, obgleich Gesetze eher dazu tendieren, kompliziert und für den Durchschnittsbürger ohne Expertenhilfe unverständlich zu sein.

Jeder Konflikt wird nach dem Buchstaben des Gesetzes bereinigt und das gilt dann als bestmögliche Lösung. Hat einer von einem formalrechtlichen Standpunkt aus recht bekommen, dann bedarf es keiner zusätzlichen Überlegung mehr; niemand darf erwähnen, daß dies vielleicht noch keine wirkliche Rechtsprechung ist und Selbstbeherrschung empfehlen oder eine Bereitschaft, auf solche Ansprüche zu verzichten, Opfer zu bringen und selbst-/ los ein Risiko einzugehen: so etwas wäre einfach absurd.

Ich habe mein ganzes Leben unter einem kommunistischen Regime verbracht und ich kann Ihnen sagen, daß eine Gesellschaft ohne eine objektive Rechtsordnung in der Tat eine schreckliche ist. Aber eine Gesellschaft ohne andere Ordnung als eine formalrechtliche ist gleichfalls nicht menschenwürdig. Eine Gesellschaft, die auf dem Buchstaben des Gesetzes aufbaut und niemals ein höheres Niveau erreicht, macht sich den Vorteil des höheren Niveaus menschlicher Möglichkeiten kaum zunutze.

Der Buchstabe des Gesetzes ist zu kalt und zu formal, um einen wohltätigen Einfluß auf die Gesellschaft ausüben zu können. Wo immer die Struktur der Gesellschaft nur aus le-galistischen Beziehungen besteht, entfaltet sich eine Atmosphäre moralischen Mittelmaßes, die des Menschen edelste Impulse lähmt...

Mittelmäßigkeit triumphiert mit der entschuldigenden Ausrede auf Beschränkungen, die die Demokratie auferlegt. Es ist Zeit, im Westen nicht

so sehr menschliche Rechte als menschliche Pflichten im Auge zu haben...

Auch die Presse erfreut sich natürlich größter Freiheit. (Und ich meine damit alle Massenmedien.) Aber auch hier besteht das Hauptanliegen darin, den Buchstaben des Gesetzes nicht zu verletzen. Von einer moralischen Verantwortung für Deformation und Verzerrung ist nicht die Rede. Welche Art der Verantwortung haben Journalisten gegenüber ihren Lesern oder gegenüber der Geschichte?

Wenn diese die öffentliche Meinung oder die Regierung durch ungenaue Informationen oder falsche Schlüsse irregeführt haben, haben wir dann je von der öffentlichen Kenntnisnahme und Berichtigung solcher Fehler durch denselben Journalisten oder dieselbe Zeitung gehört? Nein, das geschieht nicht, denn es würde den Absatz beeinträchtigen. Eine ganze Nation mag das Opfer solcher Fehler sein, aber der Journalist kommt allemal noch davon damit. Man darf annehmen, daß er darangehen wird, mit erneuertem Selbstbewußtsein das Gegenteil zu schreiben ...

Größte Freiheit besteht für die Presse, aber nicht für die Leser, denn die Zeitungen lassen vor allem jene Meinungen gelten, die ihren eigenen und dem allgemeinen Trend am nächsten kommen. Ohne Zensur werden im Westen modische Trends und Ideen im Geistesleben von den nicht so modischen getrennt. Nichts ist verboten, aber was nicht der Mode entspricht, wird kaum je den Weg in Zeitungen und Zeitschriften oder Bücher oder Universitätsvorlesungen finden.

Rechtlich sind unsere Forscher frei, aber auch sie unterliegen dem Zwang der täglichen Mode. Es gibt keine offene Gewalt wie im Osten. Aber eine Selektion, die von der Mode und dem Zwang zur Befriedigung von Massenbedürfnissen diktiert wird, halten häufig unabhängige Geister davon ab, ihren Beitrag zum öffentlichen Leben beizusteuern ...

Ich habe angewandten Sozialismus in einem Land erlebt, wo die Alternative (zu diesem westlichen System) verwirklicht worden ist, und ich werde gewiß nicht zugunsten dieser Alternative mein Wort erheben.

Aber wenn mich jemand fragen sollte, ob ich etwa der Meinung wäre, der Westen, wie er heute sich darbietet, könnte ein Modell für mein Land sein, dann müßte ich dies, offen gestanden, verneinen. Nein, ich könnte nicht Ihre Gesellschaft in ihrer jetzigen Verfassung als ein Vorbild für die Umgestaltung der unseren empfehlen...

Wenn daher unsere Gesellschaft in die Ihre umgewandelt würde, würde das in gewisser Hinsicht eine Verbesserung bedeuten, in manchen wichtigen Bereichen aber gleichzeitig eine Verschlechterung.

Es ist gewiß richtig, daß eine Gesellschaft nicht in einem Abgrund von Gesetzlosigkeit verharren kann, wie dies in unserem Land der Fall ist. Aber es ist gleichfalls entwürdigend, sich für soviel mechanische juristische Glattheit zu entscheiden, wie Sie es haben. Nach Jahrzehnten der Gewalt und Unterdrückung sehnt sich die menschliche Seele nach höheren, wärmeren und reineren Werten als jene, denen man in den heutigen Lebensgewohnheiten begegnet, die von Fernsehstarre und unerträglicher Musik geprägt werden...

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