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Der wilde Balkan

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Die warme Sonne, die hohen Berge, das Meer, die Einschlä- ge islamischer Kultur, orthodoxes Christentum, der Katholizismus der Kroaten, die durch ungarische Gewürze scharfen Speisen - die Stereotypen ließen sich fortsetzen rund um Jugoslawien; das war die Alternative zum real existierenden Sozialismus.

Schwärmereien und Träume ver- banden die Menschen jenseits des

Eisernen Vorhanges, man wollte da einmal hin, Anteil haben an einer Entwicklung, die man sich für sein eigenes Land - Ungarn, Polen, CSSR - nur wünschen konnte. Und die Jugoslawen, die lächelten nur: Wir sind eben Lebenskünstler, keine Kapitalisten, keine Sozialisten.

Aber was sind sie eigentlich? Sie wissen es heute selbst nicht. Zu spät sucht man nach seiner eigenen Identität. Man geht weit, weit zu- rück und findet nur noch Chaos. Da versammelten sich vor zwei Wo- chen in Belgrad 60.000 Menschen und forderten freie Wahlen - man beachte, Jugoslawien ist neben Al- banien noch das einzige Land Eu- ropas, wo die Kommunisten auf Bundesebene alle Zügel der Macht in ihren Händen halten -, forderten den Anschluß an Europa.

Aber wie sie gekleidet waren! Ein Fremder mußte glauben, da ver- sammeln sich Trachtenverbände,

altchristliche Sektengruppen und verkleidete Komödianten. Und die Lieder, die sie sangen, paßten die nach Europa? „Gott, du Gerechter, tue Serbien Gutes, laß es auferste- hen" oder „König Peter, wir vereh- ren dich, du Gütiger, du Weiser".

Es war kein Häufchen von Fa- natikern. Unter ihnen so bekannte Namen wie Vuk Draskovic, Vojis- lav Seselj, Dobrica Cosic. Einer von ihnen wird sicherlich das Rennen machen und bald jugoslawisches Staatsoberhaupt sein - falls es die- sen Staaten noch geben wird.

Heute prügeln die Serben die Muselmanen, die Muselmanen ver- jagen kroatische Bauern aus ihren Dörfern, die Kroaten wollen Bos- nien missionieren, die Mazedonier den Albaniern Kultur beibringen, die Slowenen den Gastarbeitern aus den südlichen Republiken nur ihre Arbeitskraft abknöpfen, aber an- sonsten von der jugoslawischen Staatsidee nichts mehr wissen.

Ich spreche pauschal von den Serben, den Kroaten. Aber kennt jemand eine politische Gruppie- rung, einen Streiter für Demokratie und Menschenrechte, der nicht nach einem nationalen Schlüssel vor- geht? Ein paar alte Bolschewisten, die nicht zu Wendehälsen werden wollten, die setzen ihren interna-

tionalistischen Proletarismus dem entgegen - eine nicht minder anti- quierte Idee, wie man weiß.

Fieberhaft suchen die alten Her- ren der jugoslawischen Politik angeblich nach Lösungen. Da ver- breiten dieser Tage slowenische und kroatische Politiker die Idee, den Namen des Landes zu verändern in „Vereinigte (?) Staaten Südosteu- ropas". Welch eine Änderung! Schon längst funktioniert der Bal- kanstaat als Konföderation, in der die Belgrader Zentralregierung alle Macht verlor, in der keine ge- meinsame Wirtschafts- oder Au- ßenpolitik untereinander ab- gesprochen werden kann, lokale Behörden hinterwäldlerische Ent- scheidungen zum Politikum wer- den lassen können und bestimmen, wieviele Kinder Albaner in die Welt setzen dürfen, ob an Serben Schwei- nefleisch oder nur Lammfleisch verkauft werden darf, ob Journali- sten Einreiseverbot bekommen oder ob man nicht einmal kurzerhand einen Querulanten verhaften sollte oder nicht.

In keinem Land Europas gibt es so viele politische Häftlinge wie in Jugoslawien. Aber auch nirgendwo sonst benehmen sich so viele ehe- malige politische Gefangene als neue, potentielle Tyrannen, neue

Möchtegern-Könige.

Neun Jahre saß Franjo Tudjman, der neue kroatische Präsident, in titoistischen Zuchthäusern, um nun seinen Haß nicht auf die Kommuni- sten, sondern auf das serbische Volk als ganzes abzulassen. Acht Jahre sollte der marxistische Universi- tätsprofessor Vojislav Seselj sitzen. Amnesty bekam ihn frei - und zum Dank gründete er nun die Cetnik- Bewegung neu, eine ehemals fa- schistische Organisation, die mit Hitler-Deutschland kollaborierte und nun zwei Millionen Albaner in die Türkei vertreiben will.

Kann man Europa einen Vorwurf machen, daß es nur zuschaut? Ein Staat zerfällt, sagt man. Für einen kommunistischen Staat - man sehe doch nur die DDR - ein „redliches Schicksal". Doch der „Anschluß" dieser Länder ist ein anderer. Die Deutschen finden zu Europa, die Slowenen nicht einmal zu Öster- reich, die Kroaten nie zu Ungarn oder zu Italien, die Serben träumen vergeblich vom Russischen Reich.

Selbst die jugoslawische Armee, die mehrmals in den letzten Jahren Putschgelüste verspürte, lehnt sich in weiche Sesseln zurück, weil sich nicht einmal diese Art der „Ret- tung" mehr lohnt. Läßt man's eben dabei, daß sich im Südosten des alten Kontinents im Getümmel der Kleinstaaterei hin und wieder na- tionale Abrechnungen abspielen werden - mit ein paar Toten, neuen Märtyrern und einer neuen Schick- salsgläubigkeit. Der Balkan ist eben rauh und wild.

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