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„Der Wind weht aus vielen Richtungen..."

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Die Kirche in der ehemaligen DDR steht am Übergang von einer Binnenkirche in einem atheistischen Einparteienstaat zu einer Kirche in Demokratie und Pluralismus. Vielfältige Herausforderungen und Chancen sind damit verbunden.

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Die Kirche in der ehemaligen DDR steht am Übergang von einer Binnenkirche in einem atheistischen Einparteienstaat zu einer Kirche in Demokratie und Pluralismus. Vielfältige Herausforderungen und Chancen sind damit verbunden.

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Wie überall lebt auch die Kirche in der ehemaligen DDR in der Spannung zwischen Kontinuität und Erneuerung, die Auseinandersetzung mit den aktuellen Fragen und Entwicklungen muß also stattfinden, ohne Grundaufgaben zu vernachlässigen: Evangelium verkünden, Alltagssolidarität üben, Liturgie feiern, den Menschen die Tiefendimension des Daseins deutlich machen.

Einer gelegentlichen Euphorie über den gesellschaftlichen Wandel in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft setzt Bischof Joachim Wanke kritisch und nüchtern das Wissen um die Unableitbarkeit des Reiches Gottes entgegen. Der Wind, der früher stark von der ideologischen Seite geweht hat, wehe heute aus verschiedenen Richtungen, teils als Rückenwind, teils als „kräftigerGegenwind". Grundsätzlich positiv beurteilt er das Ende des SED-Regimes, jede Förderung von Freiheit bedeutet trotz der Schwierigkeiten, die sie mitbringt, einen Schritt in die richtige Richtung. Freiheit birgt stets Chancen und Ris-ken, diese Ambivalenz kennzeichnet die gegenwärtige Lage.

Der Bestand der Gemeinden in der Diaspora ist nicht allein durch die soziologische Gesetzmäßigkeit erklärbar, daß ein gemeinsamer Außenfeind solidarisiert. Vielmehr ist es der seelsorglichen Arbeit gelungen, obgleich in bescheidenem Ausmaß, eine tragfähige geistige Substanz aufzubauen, die den Gemeinden Lebendigkeit und den Gläubigen Resistenz gegen die ideologische Indoktrination verliehen hat. Daß diese Substanz jetzt verloren geht, darin sieht der Bischof die große Gefährdung für den Bestand der Gemeinden .Viele engagierte Frauen und Männer verabschieden sich aus dem innerkirchlichen Bereich, um in Kommunal-, Landes- oder Bundespolitik tätig zu werden.'

Vor allem neu gegründete Verbände bieten nun die Möglichkeit, über die eigene Kirchturmspitze hinaus zu blicken. Sofern die Verbände vor Ort entstehen und die Bedürfnisse der Menschen aufgreifen, kann die Kirche davon profitieren, und sie kann subsidiär Hilfe anbieten. Mit der Tendenz einzelner Gruppen, aus den Landeskirchen hinauszudriften, habe die evangelische Kirche derzeit die größeren Probleme. In überschaubaren Gruppen, zum Beispiel der charismatischen Gemeindeerneuerung, sieht der Bischof eine Bereicherung, sofern sie im Kontext der Kirche bleiben und nicht den Rückzug in die Nische antreten. Ein Trend zur Privatisierung der Religion ist aber insgesamt deutlich wahrnehmbar. Viele Menschen bewegt heute primär die Frage, wie die persönliche Lebenssituation gesichert und verbessert werden kann, der Blick für den Nächsten geht dabei mehr und mehr verloren.

Ehrliches Mühen um Dialog

Jetzt, da sich vieles in Wandel und Auflösung befindet, taucht ein Lebensgefühl auf, „als ob der Boden unter den Füßen weggezogen wird". Vor allem unter den Älteren macht sich Verunsicherung breit, da alles Vertraute verloren gegangen .ist. Junge Leute können die Umstellung leichter verkraften und können flexibler damit umgehen. Früher ist der Staat wie eine Gouvernante auf dem Volk gesessen und hat alle versorgt und alles zentralistisch von oben verwaltet. Daran gewöhnt sich der Mensch, dieser Zustand hat viele gelähmt und das Leben von der Wiege bis zum Grab systematisch verplant. Mit der Privatisierung ist die Arbeitswelt härter geworden. Die Arbeitslosigkeit, die es früher verdeckt als Leerläufe und Zeittotschlagen in den Betrieben gegeben hat, ist zum öffentlichen Massenphänomen geworden. In dieser Zeit des Umbruchs Halt geben und deutlich machen, auf welchem Fundament wir stehen, das ist die primäre seelsorgliche Option.

Im sozialen Bereich hat sich die Kirche schon lange engagiert und begrenzt konkrete Lebenshilfe angeboten, in Krankenpflege, Ehe- und Familienberatung, Kindergärten und anderem, diese Dinge werden jetzt mehr denn je benötigt und geschätzt. Viele Schwierigkeiten, die sich für die Kirche ergeben, sind Anpassungsschwierigkeiten an die Moderne. Gedämpfter als im Westen kommen mit dem Pluralismus viele Fragen, zum Beispiel die Frauenfrage, auf die Kirche zu. Ohne pastorale Billigrezepte anzubieten, wird sich die Kirche hier in Zukunft zu bewähren haben.

Der Kontakt zwischen Ost und West im wiedervereinigten Deutschland ist auf kirchlicher Ebene von mehr Feinfühligkeit geprägt als es auf politischer Ebene oft der Fall zu sein scheint. Es besteht eine große, gegenseitige Offenheit und man müht sich ehrlich um den Dialog. Viele kommen zu Besuch in die ehemalige DDR, erkundigen sich und hören, was die Diasporakirche zu sagen hat. Neben Vorträgen, Tagungen, Konferenzen laufen viele informelle Gespräche, um die Fremdheit, die während der Jahrzehnte entstanden ist, abzubauen.

Angesichts der zahlreichen westdeutschen Ausbildungsstätten besteht Sorge, ob die philosophisch-theologische Hochschule in Erfurt erhalten werden kann, die seit zwei Jahren für jedermann und jederfrau zugänglich ist. In Ostberlin konnte eine soziale Fachhochschule gegründet werden, der Benno-Verlag in Leipzig konnte bestehen bleiben. Die Neueinteilung der Bistumsgrenzen wird noch diskutiert. Die Frage, ob die Apostolische Administratur Erfurt- Meiningen zur eigenen Diözese erklärt oder den Diözesen Fulda und Würzburg (wieder) eingegliedert wird, ist von Rom noch nicht entschieden worden.

Im ökumenischen Dialog gibt es Irritationen seitens der evangelischen Kirche, die im Stammland der Reformation mit rund sechs Millionen Christen gegenüber der einen Million Katholiken in der Überzahl ist. Die evangelische Kirche ist mehr in das kommunistische System involviert gewesen und hat mehr im Vorfeld agiert, nun sind unverhältnismäßig viele katholische Repräsentanten in den politischen Gremien vertreten. Das führte da und dort zu einer,Zählsorge" und zu einer „Art von Proporz".

Das Stasi-Problem

Die katholische Kirche habe mehr zu Grundsatzfragen und zu ideologischen Belangen Stellung bezogen, sie habe nicht an einen verbesserlichen Sozialismus geglaubt. Die evangelische Kirche hingegen war auch Plattform für alle, die irgendwie in Opposition zum System geraten sind, sie habe an einen verbesserlichen Sozialismus geglaubt und sich daher intensiver eingemischt. Weil die katholische Kirche kleiner und straffer organisiert war, ging sie bislang „relativ unbeschadet" aus der Debatte um die Stasi-Vergangenheit hervor. Die medial ausgeschlachtete Debatte werde insgesamt sehr kurzsichtig geführt, denn das eigentliche Problem ist das System und dessen Ideologie, das die Stasi hervorgebracht hat.

Die Möglichkeit, Religionsunterricht in den öffentlichen Scnulen zu halten, sollte nicht ungenutzt bleiben, um im staatlichen Bildungswesen präsent zu sein. Allerdings sollte parallel die Kinder - und Jugendkatechese in den Gemeinden weitergeführt werden. Gerade in höheren Schulklassen sieht Bischof Wanke eine gute Chance, kritische und für weltanschauliche Fragen sensible Jugendliche anzusprechen.

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