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Der Wohlstandsatheismus

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Am 12. November 1970 fand in Paris eine ergreifende Zeremonie statt, wie sie die blasierte Metropole in dieser Art fast nicht mehr kannte. Die Mächtigen der Welt versammelten sich in der ehrwürdigen Kathedrale von Notre Dame, um General de Gaulle zu ehren, der tiefe Spuren in der Geschichte hinterlassen hat. Jahre später wiederholte sich das Ereignis am gleichen Ort für seinen Nachfolger Georges Pompidou. Ohne auf besonderen Widerstand zu stoßen, hatte die laizistische Republik ein Gotteshaus gewählt und nicht etwa den Elysee-Palast oder das Palais Bourbon, beides Gebäude, die sicherlich einen entsprechenden weltlichen Rahmen für eine Totenehrung abgegeben hätten. Der französische Staat, welcher schon vor langer Zeit jede offizielle Bindung zur Kirche gelöst hat — wir sehen von der Ausnahme Elsaß-Lothringen ab —, unterstrich mit dieser Geste, daß sich die Nation überwiegend zum katholischen Glauben bekennt. Es scheint jedoch gegenwärtig Mode zu sein, jede geistige Relation zur Kirche in Frage zu stellen. Dies geschieht nicht durch Kulturkampf, scharfe Polemiken oder Gesetzesanträge, sondern es macht sich einfach eine immer stärker werdende Gleichgültigkeit bemerkbar. Diese Zeiterscheinung wird vom Jesuitentheologen Lubac als „Wohlstandsatheismus“ bezeichnet. Selbst die noch in den letzten Jahrzehnten übliche Sitte, wenigstens die Kinder taufen zu lassen oder die Ehe vor einem Priester zu schließen, wird als überflüssig erachtet. Wer vor zehn Jahren in Frankreich an einem Sonntagvormittag den Gottesdienst besuchte, war überrascht, wie viele Gläubige sich eingefunden hatten. Im November 1975 sind die Tempel Gottes halb leer, und der Erzbisohof von Paris, Kardinal Marty, äußerte seine Besorgnis darüber. Noch viel ernster ist die Lage der Kirche in den ländlichen Bezirken. Die alten Priester sterben, und junge Kleriker weigern sich, ihre Nachfolge anzutreten. Der Priestermangel wird daher zu einem der gefährlichsten Probleme der Seelsorge.

In den großen sozialpolitischen Diskussionen der letzten Jahre vermißte man oft die Stimme der Kirche. Während der heftigen Debatte über die Schwangerschaftsunterbrechung überließ die Hierarchie den Laien die Verantwortung. Entschiedene Stellung wurde erst bezogen, als starke Emotionen im katholischen Raum auftraten. Die Gespräche um die Reform des Abtreibungsgesetzes, verbunden mit rechtlichen, ethischen und theologischen Fragen, zeigen eine Vielfalt von Standpunkten. Sie reichen von der Bewegung „Laßt sie leben“ (jede Liberalisierung der Strafbestimmungen wurde als Aufweichung des Schutzes für das ungeborene Leben abgelehnt) bis zu theologischen Sprechern, die eine Absolutsetzung des Rechtsgutes Leben auch unter ethischen Gesichtspunkten ablehnten. Einige Theologen waren sogar bereit, in Konfliktfällen einen Schwangerschaftsabbruch zuzustimmen. Die gleiche Beobachtung konnte man anläßlich der Parlamentsdiskussion über die Reform des Scheidungsrechts feststellen. Obwohl mehrere Diözesanbischöfe die Position der Kirche in Erinnerung brachten, wurde von Seiten des Episkopats alles vermieden, was Leidenschaften hätte anfachen können. Man führte lediglich in diskreter Form den Katholiken das Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe vor Augen. Ein weiteres Phänomen innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft Frankreichs, die Überflutung mit pornographischen Erzeugnissen, sowie die Verherrlichung der Gewalt, stieß auf kaum spürbaren Widerstand der Kirche.

War noch in den fünfziger und sechziger Jahren die katholische Kirche Frankreichs ein absoluter Faktor in Staat und Gesellschaft, so muß man leider im ausgehenden 20. Jahrhundert feststellen, wie sehr sie sich in ein Ghetto flüchtete. Einsichtige Bischöfe, Priester und Laien wollen diese Defensivstellung der Kirche ändern und sie dazu bringen, trotz der gewaltigen Spannungen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wieder eine echte Rolle als Trägerin des Gewissens in Staat und Gesellschaft zu übernehmen. In diesem Zusammenhang wurde die Bischofskonferenz in Lourdes im Oktober 1975 als ein Zeichen dafür gewertet, daß alte Methoden und liebgewordene Traditionen über Bord geworfen und eine Katechese entwickelt werden sollen, die den Aspirationen der Gläubigen im kommenden Jahrzehnt entsprechen. Frankreichs Kirche gab sich auf dieser Bischofsversammlung eine neue Leitung in der Person des Oberhirten von Marseille, Monsignore Etchegaray. Damit wurde mit einer Uberlieferung gebrochen, die besagte, daß der Vorsitz auf der Bischofskonferenz automatisch der Erzbischof von Paris zu übernehmen habe.

Roger Etchegaray gilt als besonders dynamische Persönlichkeit; von ihm wird gesagt, daß er ein Mann des Dialoges sei und internationale

Dimensionen für sich in Anspruch nehmen könne. Auf jeden Fall ist er ein geistlicher Würdenträger, der den Mut besitzt, heiße Eisen anzufassen; er entzieht sich nicht mit vagen Worten einer gefährlichen Situation. So bezeichnete er vor kurzem das unmäßige Wetten bei Pferderennen als eine Art von Rauschgift für die Nation. Seine Amtsbrüder, wie er selbst, haben in Lourdes einige neuralgische Punkte der französischen Kirche analysiert. In erster Linie geht es darum, die Beziehungen zu den Verbänden der Katholischen Aktion zu definieren und Abweichungen innerhalb dieser Kirche zu eliminieren. Die Organisationen der Studenten JEC (Jeunesse Etudiante Chretienne) und .der katholischen Jungbauern M. R. J. C. (Mouvement Rural de la“ Jeunesse Chretienne) sind ihrer eigentlichen Aufgabe, die Missionierung innerhalb ihres Berufsstandes weiterzuführen, vielfach untreu geworden. Während sie unmittelbar nach dem Kriege ihre politische Unabhängigkeit immer wieder betonten, und sogar jeden Dialog entschieden ablehnten, waren sie nach den Maiereignissen von 1968 immer mehr bereit, sozialistisches und marxistisches Gedankengut zu übernehmen. Sie können gegenwärtig als

„links“ eingestuft werden, und sie scheuen sich auch nicht, mit der extremen Linken engen Kontakt zu pflegen. Vor allem weigern sie sich, ein Mandat für ihre eigentliche Aufgabe von der Hierarchie anzunehmen. Die Studenten und jungen Landwirte schieben ihre eigenen Vorstellungen in den Vordergrund, denen zufolge es notwendig sei, politische Optionen anzuerkennen und anstelle der pastoralen die politische oder gewerkschaftliche Verantwortung zu unterstreichen. Der Glaube komme erst an zweiter Stelle, und es sei keineswegs gesagt, daß er der eigentliche Motor für zahlreiche Aktionen sein müsse. Die gefährliche Arbeitslosigkeit der Jugend — man spricht von 650.000 — wird nach Ansicht Kardinal Martys den Prozeß der Politisierung und Polarisierung nur noch mehr fördern. Es handelt sich um eines der schwerwiegendsten Probleme der französischen Kirche, um die Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen Hierarchie, Klerus und

Jugendverbänden zu überdenken und Ansatzpunkte für eine grundlegende Reform zu finden. Viele junge Kleriker ziehen es vor, statt in der traditionellen Pfarrgemeinde Verpflichtungen zu übernehmen, als Seelsorger in spezialisierten Verbänden zu wirken. Oft im Gegensatz zur Pfarrgemeinde stehend, entwickelten sich zahlreiche Gemeinschaften und Zellen an der Basis, die sich vielfach jeder Kontrolle durch die Bischöfe entziehen. Man kann zwar den Willen dieser Jugendlichen bewundern, sich mit Energie für eine Tätigkeit in Betrieb, Fakultät oder Büro einzusetzen. Man muß jedoch mit Sorge Abweichungen registrieren, die zu vermehrten Spannungen im katholischen Raum führen. Somit beschäftigte sich die Bischofskonferenz auch mit der Notwendigkeit, die bisherige Form der Seminare zu überdenken, um den jungen Klerikern jenes Rüstzeug zu vermitteln, dessen sie in den Diskussionen für und wider eine sozialistische Gesellschaftsordnung bedürfen. Schließlich sei noch der Wille der französischen Hierarchie und ihres neuen Vorsitzenden vermerkt, eine gründliche Untersuchung über das Phänomen des marxistischen Einbruchs in die eigenen Reihen zu studieren.

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