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Der zahnlose LOwe von Juda

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Es läßt sich sagen, daß im Februar dieses Jahres in Addis Abeba, der „Neuen Blume“, wie die Hauptstadt Äthiopiens in der Übersetzung heißt, eine neue Ära begonnen hat.Zum erstenmal in der äthiopischen Geschichte, seit Ras Tef-ferri Makonnen als Haile Selassie I. 1928 die Führung des Landes durch Staatsstreich an sich riß, hatten Unbotmäßigkeiten und anschließende Forderungen Erfolg. Das Militär, ohnehin schon privilegiert, bekam Soldzulage, das alte Kabinett wurde abgelöst und inhaftiert.

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Es läßt sich sagen, daß im Februar dieses Jahres in Addis Abeba, der „Neuen Blume“, wie die Hauptstadt Äthiopiens in der Übersetzung heißt, eine neue Ära begonnen hat.Zum erstenmal in der äthiopischen Geschichte, seit Ras Tef-ferri Makonnen als Haile Selassie I. 1928 die Führung des Landes durch Staatsstreich an sich riß, hatten Unbotmäßigkeiten und anschließende Forderungen Erfolg. Das Militär, ohnehin schon privilegiert, bekam Soldzulage, das alte Kabinett wurde abgelöst und inhaftiert.

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Die Ausländer erwarten einen Militärputsch in der Art, wie man ihn in Nigeria oder Peru erlebt hat, bis heute vergeblich. Denn trotz aller zum Teil falschen, zum Teil recht widersprüchlichen Aussagen und Berichte halten sich die äthiopischen Militärs mit Machtansprüchen zurück und stützen die neue Regierung, die seit März im Amt ist. Dieser Umstand läßt staunen, doch zugleich scheint es für ihn eine schlüssige Erklärung zu geben. Schon im letzten Jahr hatten sich Gruppen innerhalb der Streitkräfte gebildet, die eines gemeinsam hatten: den Wunsch nach Erneuerung und Demokratisierung des Staates. Ideologisch linksgerichtet, wurden sie zu den Trägern der Revolte im Februar dieses Jahres. Trotz aller Begeisterung jedoch, die dem Sturze des ungeliebten Kabinetts Aklile folgte, begannen die gemäßigten Elemente in der Armee darüber nachzudenken, wie Äthiopien nach kurzer oder auch etwas längerer Zeit aussehen würde, wenn man den Radikalen freien Lauf ließe. Es formierte sich so etwas wie eine Gegenbewegung der Mitte, die eine Sammelstelle wurde für alle, die „mit Weile eilen“ wollten; eine Sammlung also der „Evolutionäre“.

Das erste sichtbare Zeichen für deren Willen, ein Ausufern der Revolution zu verhindern, war die Umzingelung und damit die Neutralisierung der renitenten (sogenannten „progressiven“) Luftwaffeneinheiten in Debre Zeit durch die Fallschirmjäger. Dies geschah durch eine „Belagerung“, die bis in den Juli hineinreichte. Auf dem Lande zeigte es sich dagegen, daß das Militär mit dem Widerstand der konservativen Großgrundbesitzer rechnen mußte. Die Erkenntnis, daß einerseits die Gefahr einer Radikalisierung von links bestand, anderseits aber die eigene Macht an den Toren der großen Städte endete, ließ es den Militärs geraten erscheinen, einer Zivilregierung ihre Unterstützung zu gewähren, deren Mitglieder sämtlich aus der Top-Etage des öffentlichen Lebens von Äthiopien stammen.

Alle jetzt etablierten neuen Minister sind keine Freunde des Kaisers, wenn sie auch gut mit ihm bekannt oder sogar mit ihm verwandt sind. Dies stellt aber in Äthiopien ohnehin keine Besonderheit dar, da verwandtschaftliche Bindungen generationenweit zurückverfolgt und geachtet werden.

Mit Endalkatchew Makonnen übernahm ein Premierminister das Ruder, der nicht nur in den vorigen Kabinetten Ministerposten innegehabt hatte, sondern auch als Delegierter seines Landes bei den Ver Nationen wertvolle außenpolitische Erfahrungen sammeln konnte und durch seine Erziehung in Oxford für Aufgaben der Staatsverwaltung gut gerüstet ist.

Die anderen Ressortminister waren alle zu irgendeiner Zeit von der politischen Bühne verschwunden; sei es, daß sie freiwillig gingen, um sich von den Machenschaften der alten Regierung zu distanzieren; sei es, daß Haile Selassie, bis dato unbeschränkter Herr im Staate, sie nicht länger als Kritiker um sich litt. Haile Selassie hatte — auch nach der Verfassung von 1955 — stets geherrscht. Nun sollte regiert werden. Das neue Kabinett, allen voran Endalkatchew, versuchte, nachdem die ersten Turbulenzen durchgestanden waren, so etwas wie eine logische Brücke zwischen dem Gestern der Vorf ebruartage und dem Heute einer modernen Entwicklung zu schlagen.

In einem Interview vom Mai dieses Jahres erklärte der Premier: „Was eigentlich geschehen ist, macht lediglich einen Kabinettswechsel aus.Sicherlich ist dies nicht aus sich heraus passiert. Es gab so etwas, das ich als .soziales Sichauflehnen' bezeichnen möchte, was wiederum in anderen Faktoren, innen- und außenpolitisch gesehen, seinen Ursprung hatte: in der Ölkrise, den damit verbundenen drastischen Erhöhungen der Lebenshaltungskosten, im Leiden der Bevölkerung, das damit verbunden war. Aber natürlich trug auch die Dürrekatastrophe viel dazu bei; denn obgleich sie nicht ganz Äthiopien betraf, griff sie doch tief in das Sozialgefüge ein. Und letztlich möchte ich sagen, haben wir einen hohen Preis für unsere lange Stabilitätsperiode zu zahlen.

Immer hat man Äthiopien als eins der stabilsten Länder Afrikas betrachtet, und Stabilität an sich fordert ihren Preis. Denn als die Unruhen begannen, waren sie drastischer, als man es sich gemeinhin gedacht hatte. Aber obwohl sie drastisch waren, muß ich dem Volk das Lob aussprechen, alles ohne Blutvergießen vollzogen zu haben.

Nun sind wir — das neue Kabinett — dazu aufgerufen, als Übergangsregierung dafür Sorge zu tragen, daß in dieser Übergangszeit wieder Ruhe einkehrt, in der die Verfassung geändert und die friedliche Zukunft Äthiopiens begründet werden soll.“ &#9632;<

Diese Hoffnung erwies sich leider, obschon mit Vorbehalt geäußert, als vergeblich. Zwar hatte man ein Weißbuch herausgegeben, in dem man Nahziele und eine mittelfristige Planung umrissen hatte; aber die retardierenden Kräfte des Landes hatten nicht etwa aufgehört zu existieren, sondern operierten jetzt mehr im Hinter- und Untergrund, um durchgreifende Reformen zu verhindern. Die noch in dem Interview geäußerte Meinung zu diesem Weißbuch, daß es nämlich nicht nur kurzfristige Lösungen anvisiere, sondern vor allem Zukunftsprojekte behandle und Modelle hierzu anbiete, konnte vor dem Alltag, der im Kaiserreich einsetzte, nicht mehr bestehen.

Es ging nicht recht vorwärts. Die Kommissionen, eingesetzt, um die Verfassung zu revidieren, um die verhafteten Minister, Gouverneure und Generale abzuurteilen und Sozialreformen vorzubereiten, sie alle werkelten zwar eifrig, aber ohne sichtbare Erfolge.

Premier Endalkatchew Makonnen hatte gesagt: „Wir glauben, daß das neue Kabinett zuerst einmal eine Regierungserklärung abgeben sollte, in der wir die Ziele unserer Philosophie, unser politisches Credo veröffentlichen würden, zusammen mit unseren damit verbundenen Hoffnungen für das Land. Wir mußten etwas Ambitioniertes herausbringen, wir stehen hier nicht in einer Art von Vertragsverhältnis; wir müssen in die Zukunft sehen, wir bauen an dem Fundament für zukünftige Regierungen.“ |

Wie schon gesagt: dieses Fundament wollte nicht recht gelingen. Hierin muß man das auslösende Moment für das Einschreiten der Armee Anfang Juli sehen. Wieder sagten ausländische Auguren eine Militärregierung voraus, sprachen Nachrichtenagenturen von Kabinettsposten für Militärs, und wieder gab es eine für Äthiopien typische Entwicklung.

Man übersah kleine Zeichen, die deutlich machten, daß es hier nicht um die direkte Regierungsgewalt für das Militär ging, sondern um die Freilegung des Weges, den die Regierung in ihrem Weißbuch aufgezeigt hatte, man schoß nicht, man räumte behutsam aus dem Wege; es kam zu keinem Blutbad.

Da faßte man zuerst Ras Asserate Kassa, den Präsidenten des Kronrats, den vornehmsten Mann im Staat neben dem Kaiser. Von ihm konnte man nicht erwarten, daß er dem Volk freiwillig die Teilung der Macht anbot. Dann entfernte man Würdenträger der Kirche, der Institutionen und der Stiftungen, die alle in dem Verdacht standen, recht tief in die Kassen des Landes gegriffen und sich wenig um das Wohl und Wehe dieses Staats und seiner Bürger gekümmert zu haben. Endalkatchew Makonnen erstrebte „eine Verfassungsänderung, die einerseits spezifisch äthiopisch sein sollte, anderseits aber die Erfahrung anderer Staaten vergleichbarer historischer und kultureller Entwicklung mit einbezog“.

Diese Verfassungsänderung soll in der Hauptsache die Rolle des Parlaments, die Zulässigkeit politischer Parteien, die Verantwortlichkeit des Premierministers gegenüber dem Parlament und der Krone und alle damit verbundenen Angelegenheiten regeln. Erst wenn man genau weiß, wer in Äthiopien über welche legitimen Machtmittel verfügt, werden die drängenden Reformen in Angriff genommen werden können. „Ischl nege“, sagt der Äthiopier, wenn er etwas aufschiebt, und nach diesem Grundsatz des „Morgen-Besorgens“ handelte die alte Garde.

Um diese Schwelle zu überwinden, fehlte es der Regierung Endalkatchew Makonnen an Kraft; denn auch der Kaiser, im Alter zum Zauderer geworden, mochte sich zu nichts entschließen. So griff das Militär abermals ein, doch immer in direkter Zusammenarbeit mit dem Premier und seinen Ministern. Ministerpräsident Edalkatchew war dabei, als Anfang Juli im Jubiläumspalast die Forderungen der Soldaten die Ohnmacht des „Löwen von Juda“ offenbarten. Man forderte: Befreiung der politischen Gefangenen, Rückkehr der Exil-Äthiopier, schnellstmögliche Verabschiedung und Verwirklichung der Verfassung, die den Monarchen nur noch als konstitutionelles Oberhaupt fungieren läßt. Und Haile Selassie sagte zu allem ja.

Man braucht ihn, denn die Krone ist die Klammer, die den VielvölkerEs ist zu erwarten, daß diese Hilfe besonders dringend wird, sobald die „Aufräumaktion“ im Kaiserreich abgeschlossen ist. Äthiopien ist reich an Ackerland und Bodenschätzen, es lohnt sich, diesen natürlichen Reichtum zu nutzen. Die Rollenverteilung im Urbanen ÄtMopien scheint klar: Anders als in anderen Ländern, in denen das Militär zur Macht drängte, verstehen sich die äthiopischen Streitkräfte als Promo'tor und nicht als Motor der Gesamtbewegung.

Aber was in den Städten relativ leicht zu erreichen war — nämlich Einfluß auf die Machtzentren zu gewinnen —, dürfte im Umgang mit einer zu über 90 Prozent analphabetischen Bevölkerung in den Provinzen schier unlösbare Schwierigkeiten mit sich bringen. Hier weiß man nur den lokalen „Chief“ zu würdigen, hier sind Addis Abeba, Dire Dawa oder Asmara weit; hier herrscht archaische Ordnung. Hier wird Haile Selassie der siegreiche „Löwe von Juda“ und „Auserwählte Gottes“ genannt, oder sogar als „das Licht Äthiopiens“ bezeichnet.

Äthiopien braucht jetzt Freunde, die ihm helfen; je größer der Erfolg der Gemäßigten sein wird, desto geringer wird die Gefahr einer Radikalisierung in Richtung auf Moskau oder Peking.

Äthiopiens Nachbar im Süden, Somalia, ist zur sowjetischen Einflußsphäre zu zählen, Ägypten im Norden strebt nach Neutralität, und das tut auch der Sudan; der Ausgang des Roten Meeres nach Süden zum Indischen Ozean wird vom sozialistischen Südjemen bewacht.

Das „Horn von Afrika“, das Äthiopien bildet, gewinnt dadurch an besonderer strategischer Bedeutung. Eine westlich orientierte, demokratische Regierurig in Addis Abeba erscheint bei solcher Betrachtung der Lage als wünschenswert, wenigstens für alle Menschen, die an einer weiteren „Balkanisierung“ dieses Landes nicht interessiert sind.

Wohin geht Äthiopien also? Es sieht so aus, als unternehme es die ersten Schritte auf dem langen Weg zu einem modernen Staat.

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